Unterbringung der Displaced Persons nach Kriegsende in Lingen (Ems)

Nach dem Zweiten Weltkrieg war eines der drängendsten Probleme die Unterbringung der Displaced Persons, der befreiten ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Parallel zur Militärregierung war am 6. April 1945 das Relief Military Government Detachment Nr. 205 (bald abgelöst von Nr. 509) in Lingen eingezogen. Seine Aufgabe war es, die Displaced Persons zunächst in ihren Lagern zu registrieren und langfristig in ihre Heimat zurückzuführen. Unterstützt wurde es dabei von einer französischen Frauenhilfseinheit. Als zentrales DP-Auffanglager wurde die Lingener Artillerie-Kaserne eingerichtet. Wer sich im Juli 1946 noch immer außerhalb eines DP-Lagers aufhielt, verlor seinen Status als Displaced Person. Im Kreis Lingen betraf das immerhin 855 Menschen.


Abb.: Beispiel für einen DP-Ausweis: United Nations Displaced Person/Refugee Identity Card von Johanna Päts, 1948 (Voldemar and Johanna Päts collection, Stanford Libraries)

Die Insassen des Lingener DP-Lagers waren getrennt nach Nationen untergebracht. Zunächst entstanden ein sowjetisches und polnisches Camp, dann ein italienisches. Aber auch Niederländer, Franzosen, Belgier, Spanier, Jugoslawen, Tschechen, Letten, Esten und Rumänen befanden sich in der Kaserne. Noch im Laufe des Aprils 1945 wuchs ihre Zahl auf weit über 2000. Im Mai wurden zudem kurzzeitig über 1000 polnische Juden aus dem KZ Bergen-Belsen aufgenommen. Die Evakuierung der Westeuropäer verlief recht unproblematisch. Schwieriger gestaltete sich die Rückführung der Polen, die in Lingen die größte Gruppe bildeten. Viele von ihnen wollten nicht nach Polen zurück und hofften auf eine Einreise in die USA. Im Laufe des Jahres entwickelte sich das DP-Camp so zu einem rein polnischen Lager mit rund 3500 Insassen.


Abb.: Lager B des „Polnischen Zivillagers Lingen (Stadtarchiv Lingen)

Bis zum Februar 1946 stieg ihre Zahl auf 4400, im März 1947 waren es noch immer 3600.


Abb.: Opuszczasz Polski oboz cywilny w Lingen“ – „Sie verlassen das polnische Zivillager in Lingen (Stadtarchiv Lingen)

Nach einigen Monaten Leerstand wurde die Kaserne dann Anfang 1948 – übrigens gegen den erklärten Willen der Stadt – erneut von Displaced Persons bezogen, diesmal aus Jugoslawien und dem Baltikum. Auch sie strebten fast alle eine Immigration in die USA an.

Im Juli 1945 übernahm die unter dem Dach der Vereinten Nationen stehende UNRRA die Lagerleitung, Ende 1946 dann ihre Nachfolgeorganisation IRO, die schließlich auch die Ausreise in aufnahmewillige Drittstaaten ermöglichte. Ohne die Beteiligung der Displaced Persons selbst war die Organisation des Lagers personell jedoch kaum zu realisieren. So wurde aus der Mitte der Insassen ein Camp Leader bestimmt, der als Mittler zu den Insassen fungieren sollte und zunehmende Verantwortung auf sich vereinte. Auch die einzelnen Kasernenblocks wählten eigene Block Leader. So entwickelte sich das Lager allmählich zu einer mehr oder weniger selbstverwalteten Gemeinschaft mit eigenen Schulen, einer Kirche und zwei Theaterensembles. Ein Ensemble spielte unter Leitung von Leon Schiller, einer der berühmtesten Theaterregisseure Polens.


Abb.: Die Lagerkirche im DP-Camp mit improvisiertem Glockenturm (Stadtarchiv Lingen)


Abb.: Im Innern der Lagerkirche (Stadtarchiv Lingen)

Auch ein einfaches Hospital stand dem Lager zur Verfügung. Dennoch war der Gesundheitszustand der Displaced Persons häufig besorgniserregend. Aus Angst vor Seuchenausbrüchen wurden sie zur Entlausung mit DDT behandelt. Eine vermeintliche Typhusepidemie stellte sich schließlich als Masern heraus. Doch gerade in der Anfangszeit kam es zu vermehrten Todesfällen. Allein zwischen April und August 1945 starben 45 Personen, zwischen Juli 1945 und Februar 1946 62, darunter auch zwanzig Männer, die sich mit selbstgebranntem Alkohol vergiftet hatten. Auch die psychologische Belastung war enorm. Das Lingener Gesundheitsamt bezeichnete ihren Zustand 1950 als psycholabil. Eine psychologische Betreuung fand jedoch nicht statt.

Das Verhältnis zu den Lingenern war schlecht. Persönliche Begegnungen fanden bestenfalls auf dem Schwarzmarkt statt. Vorwürfe wurden laut, die Lingener Fleischereien würden nur noch für das DP-Lager produzieren. Berichte über vereinzelte Delikte unter den Lagerinsassen verdichteten sich bei der Lingener Bevölkerung zu dem Vorurteil, die Displaced Persons seien allgemein Diebe und Gewalttäter. Die Beunruhigung in der Bevölkerung würde solange andauern, so schrieb der Lingener Landrat, wie sich zivile Polen außerhalb des Lagers bewegen dürften. Die Täter-Opfer-Beziehung zwischen den Deutschen und ihren ehemaligen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen stellte das schlechterdings auf den Kopf. Der Arzt Carl-Ernst Koch vermerkte 1954 über Lingen: „Die deutsche Bevölkerung der Umgebung ist sehr konservativ und verhält sich gleichgültig-passiv gegenüber den Lagerbewohnern. Anerkannt wird ihre sozial einwandfreie Haltung, mißbilligt wird ihre Existenz überhaupt.“

Die Verantwortung über die DP-Lager ging im Juli 1950 auf die Bundesrepublik über. Das einzige noch bestehende DP-Lager des Emslandes war die Lingener Kaserne mit rund 1000 Insassen, die nun vom städtischen Meldeamt erfasst und damit eingemeindet wurden. Sie waren nun zunehmendem Druck ausgesetzt. Niedersachsen verzichtete auf die überfällige Herrichtung der Unterkünfte und forderte stattdessen Nebenkosten für Strom, Gas und Wasser ein. Die Krankenstation und die Schulen des Camps wurden geschlossen und die Gemeinschaftsverpflegung eingestellt. Der Versuch, einen auch Deutschen offenstehenden Lagerkindergarten zu errichten, scheiterte am heftigen Widerstand der Deutschen.

Der Lingener Zentralverband vertriebener Deutscher forderte gar die vollständige Räumung der Kaserne, um hier Vertriebene unterzubringen. 1954 befanden sich noch immer 387 ehemalige Displaced Persons in der Kaserne, meist Alte und Kranke. Die letzten Bewohner wurden 1957 in schlecht eingerichtete Mietwohnungen an der Friedrichstraße und der Heinrichstraße umquartiert. Man brauchte die Kaserne für die Bundeswehr.

Während die meisten Displaced Persons in Lingen auf ihre Heim- oder Weiterreise hofften, erreichten zahlreiche Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches die Stadt, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen.


Abb.: Verteilung der Flüchtlinge aus Langenbielau auf die Landgemeinden im Kreis Lingen vor 75 Jahren (19. April 1946 (Foto: Axel Wisniewsky)

Darüber berichtete das Emslandmuseum in seiner Serie „75 Jahre Niedersachsen“ am 13.4.2021. Der Beitrag trägt die Überschrift „18. April 1946 – Ankunft eines Flüchtlingstransportes aus Langenbielau (heute Bielawa) in Lingen“. Im Frühjahr 1946 trafen die ersten Transporte in Lingen ein. Zu diesem Zeitpunkt waren alle regulären Unterkünfte im Kreis Lingen bereits mit Flüchtlingen aus Ostpreußen und Pommern überfüllt. Daher mussten die Vertriebenen, zum größten Teil waren es Schlesier, in die Landgemeinden und dort in Privatwohnungen einquartiert werden. Die Einheimischen waren alles andere als begeistert.

Ein Zeitzeuge aus Langenbielau – heute Lingens polnische Partnerstadt Bielawa – berichtet über seine Ankunft in Lingen vor 75 Jahren: „Dann kamen wir also am 18. April in Lingen auf dem Bahnhof an. Da sind wir dann in Lingen auf die Dörfer verteilt worden.“

Nach diesen Sammeltransporten im Frühjahr und Sommer 1946 waren die Aufnahmekapazitäten im Raum Lingen mehr als erschöpft. Selbst Backhäuser und Stallungen auf den Bauernhöfen, Wochenendhäuser und Fischerhütten an der Ems, Wehrmachtsbaracken und frühere Flakstellungen hatte man zu Notwohnungen für die Flüchtlinge umfunktioniert.

Quellen und Literatur:
• Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
• Stadtarchiv Lingen, Karteisammlung, Nr. 7.
• Kneuper, Richard: 1945. Displaced Persons in Lingen, in: Kivelingszeitung 2017, S. 173-175.
• Lembeck, Andreas: Befreit, aber nicht in Freiheit. Displaced Persons im Emsland 1945-1950 (DIZ-Schriften 10), Bremen 1997.
• Remling, Ludwig: Das Kriegsende 1945 im Raum Lingen (Materialien zur Lingener Geschichte 3), Lingen 1996.
• Schüpp, Heiner: Die politische Entwicklung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Franke, Werner e.a. (Hg.): Der Landkreis Emsland. Geographie, Geschichte, Gegenwart. Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002.

Kontakt:
Stadtarchiv Lingen (Ems)
Baccumer Straße 22
49808 Lingen (Ems)
Tel.: 0591 / 91671-11
stadtarchiv@lingen.de

Quelle: Stadtarchiv Lingen (Ems), Archivalie des Monats April 2021, 6.4.2021; Emslandmuseum, „75 Jahre Niedersachsen“, 13.04.2021

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