Ab nach Übersee – jeder zwölfte Dürrner musste gehen

Aus der Serie „Geschichtsort Archiv“

Einwanderung und Auswanderung prägen die südwestdeutsche Gesellschaft seit Menschengedenken. Dabei war Migration teils erzwungen und teils freiwillig – mit allen möglichen Mischformen dazwischen. Eine solche betraf die Massenauswanderung des Jahres 1854 an vielen Orten der Region, zum Beispiel in Dürrn.

Abb.: Aufruf im Pforzheimer Beobachter zur Schuldenliquidation der auf Gemeindekosten nach Amerika auswandernden Ortsarmen (Quelle: Stadtarchiv Pforzheim).

Der Bevölkerungsanstieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgte für eine zunehmende Verarmung in den Dörfern, denn die landwirtschaftliche Fläche, aus der die Einwohnerschaft zu ernähren war, wuchs nicht mit. Durch die Realteilung, also die Aufteilung der Höfe im Erbfall, wurde das eigene Land zudem immer kleiner. Die wirtschaftlich schwierige Situation wurde durch Missernten in den 1840er Jahren weiter verschärft, und nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 war auch der Traum mancher Untertanen nach größerer bürgerlicher Freiheit zerronnen.

Abb.: Rechnung des Dürrner Schuhmachers Gottlieb Durban an die Gemeindekasse für die Fertigung von Schuhen für die Auswandererfamilien Arn, Barth und Schaufler (1854) (Quelle: Gemeindearchiv Ölbronn-Düren).

So steigerte sich die Auswanderung um 1850 zum Massenexodus: 1854 waren offenbar allein aus Dürrn seit dem Vorjahr 20 Personen ausgewandert. Dabei heißt es zynisch, dass „durch ihren Wegzug die Gemeinde nichts verloren habe, denn die Aussicht auf weitere Unterstützungslast“. Doch es kam noch schlimmer, denn der Gemeinderat wünschte, dass weitere 50 bis 60 Personen „auf öffentliche Kosten zur Auswanderung gebracht würden“ – heute würde man sagen: Sie sollten abgeschoben werden.

Die Ortsarmen seien „durch Forst- und Feldfrevel für die Umgegend“ zu einer „wahren Plage geworden“, wie es in der Chronik heißt: Sie waren gezwungen, sich das Nötigste nicht nur durch Bettelei, sondern auch durch Diebstahl im Wald und auf den Feldern zu verschaffen. Auch der Dürrner Pfarrer Greiner sprach sich für „die Auswanderung dieses verkommenen Theils der Gemeinde“ aus, und der Pforzheimer Oberamtmann unterstützte das Ansuchen.

Abb.: Anzeige aus dem Pforzheimer Beobachter (1854) (Quelle: Stadtarchiv Pforzheim).

Auf dem Rathaus handelte man schnell: Der Gemeinderat beschloss, mindestens 6.000 Gulden Kapital aufzunehmen, was die Gemeinde im September 1854 zur „Bestreitung der Auswanderungskosten mehrerer Ortsarmer“ auch tat. Damit wurden andere Schuldaufnahmen, zum Beispiel 400 Gulden „zur Unterstützung der Ortsarmen-Suppenanstalt“, künftig überflüssig. Die Gemeinde stattete die Auswanderer mit Kleidung, Schuhen und Koffern aus, was für die Dürrner Schneider und Schuhmacher willkommene Großaufträge bedeutete.

Der größte Teil der Menschen wurde schließlich im Oktober 1854 vom Gemeinderechner und einem Gemeinderat nach Mannheim begleitet. Bis Bruchsal ging die Reise in sieben Fuhrwerken. Diese Fuhren wurden unter der Dürrner Einwohnerschaft versteigert, indem wie üblich die günstigsten Gebote den Zuschlag erhielten. Ab Bruchsal ging es dann mit der Eisenbahn weiter bis Mannheim, wo man einer Auswanderungs-Agentur die Ortsarmen und 4.228 Gulden für die weitere Reise übergab.

Unter den 68 Abgeschobenen waren mehrere große Familien, darunter die je achtköpfigen von Michael Arn und Matthias Schimpf. Mindestens 55 Dürrner Ortsarme überquerten von Antwerpen aus den Ozean und erreichten am 20. Dezember 1854 New York. Die Einwohnerzahl von Dürrn verringerte sich schlagartig auf nur noch 814 im Jahr 1855; drei Jahre zuvor hatte sie noch 881 betragen. Jeder zwölfte Dürrner hatte demnach seine Heimat verlassen. Das Dorf war mit diesem „Befreiungsschlag“ aber nicht allein: Das Jahr 1854 bildete auch in den Nachbarorten dies- und jenseits der badisch-württembergischen Landesgrenze den Höhepunkt der Massenauswanderung.

Nach diesem „Aderlass“ verbesserte sich für die Gemeinde Dürrn die finanzielle Situation. Die Auswanderungszahlen gingen dauerhaft deutlich zurück, denn die verbliebenen ärmeren Einwohner fanden mehr und mehr Verdienstmöglichkeiten in der wachsenden Pforzheimer Schmuckindustrie. Zugleich war die Gemeinde endlich wieder in der Lage zu investieren: Das heutige Schulhaus wurde in dieser Zeit gebaut.

Als Anfang der 1880er Jahre eine schlechte Konjunkturlage in Deutschland mit einem Wirtschaftsboom in den USA zusammentraf, erfasste auch Dürrn nochmals eine Auswanderungswelle, allerdings deutlich geringeren Ausmaßes. Der wirtschaftliche Aufschwung im Deutschen Reich und schließlich der Erste Weltkrieg brachten die Emigration weitgehend zum Erliegen.

Quelle: Enzkreis, Pressemitteilung 355 / 2016

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