Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen

Neu erschienen ist ein Führer durch die Bestände der Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen. Das Buch listet 18 größere Archive, 51 feministische Archive und 37 thematische Facharchive sowie die Adressen von 170 weiteren Archiven aus dem deutschsprachigen Raum auf (www.leibi.de/archive). Die einzelnen Archive und Bibliotheken werden mit Post- und Internetadressen aufgelistet, die Bestände der grösseren Einrichtungen näher beschrieben. Teil des Buches ist die Auswertung einer Befragung von 44 größeren Archiven. Ihre Resultate lassen Rückschlüsse über das Selbstverständnis und die Probleme der Bewegungsarchive als Einrichtungen der historischen Bildung zu.

Info:
Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände,
Verlag AG SPAK,
Neu-Ulm 2003,
ISBN 3-930830-40-X,
180 S., 15 Euro

Kontakt:
Bernd Hüttner
Archiv der sozialen Bewegungen
St.Pauli-Str. 10/12
28203 Bremen
Fax 0421-75682
www.archivbremen.de
Bremer Archive im Internet: www.bremer-archive.de

125 Jahre Wertheimer Sammlungen

Unter dem Titel „125 Jahre Wertheimer Sammlungen“ wird im Grafschaftsmuseum am Mittwoch, 12. November, um 18 Uhr durch Oberbürgermeister Stefan Mikulicz eine Jubiläumsausstellung eröffnet, die bis 18. April 2004 zu sehen sein wird.

Am 8. November 1878 waren Wertheimer Bürgerinnen und Bürger öffentlich aufgefordert worden, „Schriften, Drucksachen oder bildliche Darstellungen, die sich auf Wertheimer Verhältnisse beziehen, für die anzulegende städtische Sammlung zu stiften“. Der damalige Gemeinderat stellte einen Schrank zur Verfügung, um die ersten Schriftstücke, Bücher und Bilder aus gräflichen und fürstlichen Zeiten aufzunehmen.

Die neue Jubiläumsausstellung „125 Jahre Wertheimer Sammlungen“ im Grafschaftsmuseum erinnert an diese musealen Anfänge in Wertheim. Gezeigt werden neben den Archivalien, die Beginn und Aufbau der Städtischen Sammlung dokumentieren, die frühesten Museumsobjekte selbst und ihre Präsentation zwischen 1904 und 1922, ergänzt durch alte Fotografien aus dem Besitz des Historischen Vereins.

Zur Geschichte der Sammlungen: Als erster Zugang wird am 29. November 1878 die farbige Zeichnung einer Disputation des Dichters Johannes v. Wetzlar mit dem Wertheimer Grafen Johann II. und dessen Sohn aus der Zeit um 1420/1430 aufgeführt, die Prinz Franz zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg schenkte. Bereits im folgenden Jahre verzeichnen Ratsprotokolle und Presse erste Sachobjekte, darunter eine „irdene Schüssel vom Jahre 1763“ und ein „Holzmodell der alten Tauberbrücke, geschaffen und gestiftet von Wilhelm Weimar“. Als der fürstlich löwensteinische Archivar Karl Wagner (1833 bis 1889), der die Sammlungen förderte, im Jahre 1889 sein „Erstes Inventar“ aufstellte, führte er unter 173 Katalognummern diese beiden Gegenstände auf. Seit 1886 konnte die Sammlung im obersten Teil der Kilianskapelle, dem alten Gymnasiumsgebäude, regelmäßig besichtigt werden. 1895 wurden alle Gegenstände in 13 Kisten verstaut und die Kapelle nach jahrelangem Umbau wieder in den alten Zustand versetzt, um nach fachmännischer Beratung am 22. März 1904 als „Städtische Altertumshalle“ der Öffentlichkeit übergeben zu werden.

Im gleichen Jahr, am 25. April 1904, trat der „Historische Verein Alt-Wertheim“ ins Leben, dessen Gründungsmitglied, Kaufmann Otto Langguth, vom Gemeinderat am 9. Oktober 1905 mit der Leitung und Oberaufsicht der Städtischen Altertumssammlung betraut wurde. Als Konservator wurde er 1906 ermächtigt, pro Jahr bis zum Betrag von 50 Mark Gegenstände für die Altertumshalle zu erwerben.

Unter seiner Leitung, die er bis 1925 inne hatte, gelang es dem Historischen Verein, durch Beiträge und Spenden nicht nur die Sammlungen wesentlich zu vermehren, sondern auch das „Haus zu den vier Gekrönten“ als Vereinshaus und weiteres Museumsgebäude zu erwerben. In diesem Gebäude wurden im Sinne damaliger Museumsarbeit unter anderem eine altdeutsche Küche, die kleidungsgeschichtliche Sammlung und bürgerliches Kunstgewerbe gezeigt. In der Kilianskapelle blieben die sakralen Gegenstände, Waffen und Objekte der Wertheimer Zünfte und Handwerker.

1922 wurden hier nach dem wissenschaftlichen Konzept des Direktors des Badischen Landesmuseums in Karlsruhe, Karl Rott, die Bestände neu geordnet.

Heute sind beide Sammlungen, vermehrt um neue Erwerbungen, unter dem Dach des Grafschaftsmuseums zusammengeführt. Das Vereinshaus „Zu den Vier Gekrönten“ wurde 1999 mit dem Alten Rathaus der Stadt zu einem Museumskomplex in der Rathausgasse 6 bis 10 verbunden. Um diese Nahtstelle gruppiert sich die neue Ausstellung.

Kontakt:
GrafschaftsMuseum
Rathausgasse 6-10
97877 Wertheim
Tel. / Fax: 09342 / 301 511
Grafschaftsmuseum@t-online.de
http://www.grafschaftsmuseum.de/

Quelle: Fränkische Nachrichten, 24.10.2003

Verlagerung von Dokumenten des Stadtarchivs Meisenheim

Als Meisenheim 1315 Stadtrechte erhielt, wurde es durch Bruchsteinmauerwerk, Wehrgang, Türme usw. befestigt. Diese Befestigung ist heute noch in ihrem Gesamtverlauf erkennbar. Von den drei Stadttoren ist noch eines, das Untertor, Zeuge alter Wehrhaftigkeit. Dieses Tor ist ein viereckiger Festungsturm, dessen Mauern, wie die der Stadtmauern, 1,50 m dick sind.

Die Mitglieder des Stadtrates wussten, worüber sie diskutierten. Vor der Sitzung hatte der Meisenheimer Bürgermeister Volkhard Waelder den Rat zu einer Ortsbesichtigung eingeladen und einige Erklärungen zur eventuellen Verlagerung der im Untertor im Stadtarchiv liegenden Dokumente nach Koblenz gegeben.

Bei der anschließenden Sitzung des Stadtrates wurde über die Verwendung des Gebäudes gesprochen. Ob nun diese Räumlichkeiten an einen Hotelier verpachtet werden, der sie als Hochzeitssuite an frisch gebackene Ehepaare vermietet, oder ob sich ein Stadtschreiber finden lässt, der dort für einige Zeit arbeitet, ließ die Ratsrunde zunächst offen. Die Diskussion drehte sich um die Abgabe der Dokumente an das Landeshauptarchiv in Koblenz, deren Beauftragte vor einiger Zeit die Unterlagen gesichtet hatten.

Das Urteil dieser Fachleute, die klimatischen Bedingungen im Turm schaden den alten Dokumenten, hinterließ Eindruck bei den Ratsmitgliedern. Zweifel an einer möglichen Auslagerung nach Koblenz waren dennoch vorhanden: Hat Meisenheim nach einer Auslagerung noch Zugriff auf die eigenen Dokumente, welche Kosten entstehen der Stadt durch die Auslagerung, und könnte die Stadt nicht in eigener Regie das Archiv betreiben?

Waelder verneinte die Frage, ob die Stadt die ordnungsgemäße Pflege und Aufbewahrung dieser Dokumente in eigener Regie leisten könne. Es fehlten dort im Turm entsprechende Heizmöglichkeiten, um eine für die wertvollen Dokumente konstante Temperatur zu schaffen. Auch müsste für eine gleichbleibende Luftfeuchtigkeit gesorgt werden, und schließlich hätte die Stadt einen Archivar zu bestellen, der alles in Ordnung hält, erinnerte der Bürgermeister. Das wären aber Leistungen, die aus der Stadtkasse nicht zu bezahlen sind.

Nach eingehender Diskussion einigten sich die Mandatsträger, die Dokumente aus dem Stadtarchiv für einen Zeitraum von fünf Jahren dem Landeshauptarchiv in Koblenz zu überlassen – mit eindeutig geregelten Zugriffsmöglichkeiten der Stadt, wie Waelder betonte.

Für die im Stadtarchiv lagernden Bücher soll nun eine neue Bleibe gesucht werden, beschloss der Rat. Waelder nannte da verschiedene Möglichkeiten, diese z.B. im Feuerwehrhaus unterzubringen, wogegen die Verbandsgemeinde nichts hätte.

Quelle: Allgemeine Zeitung Bad Kreuznach, 25.10.2003

Vereinsarchiv TV Schmie

Ein für ganz Baden-Württemberg musterhaftes Vereinsarchiv ist der Lohn für eine kontinuierliche Beschäftigung mit vorhandenen Archivalien beim TV Schmie. Die große Mithilfe von Jürgen Lotterer vom Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg diente als Anleitung für diese Vereinsarbeit. Am Mittwochabend wurde in einem Anbau der Turn- und Festhalle von Schmie der Archivraum eingeweiht. Das für keinen bestimmten Zweck vom Verein vorgesehene Zimmer wurde für die Aufbewahrung aller vorhandenen Schriftstücke und Fotos eingerichtet. Maulbronns Stadtarchivar Martin Ehlers, der auch für das Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg als Archivar tätig ist, stellte zwischen Jürgen Lotterer und dem TV Schmie den Kontakt her.

Für den Projektleiter war das beim TV Schmie vorhandene Material beispielhaft. „Eine mustergültige und ordentliche Aktenführung“, meinte Jürgen Lotterer. Seit dem Gründungsjahr des Vereins im Jahr 1899 standen ihm Archivalien zur Einrichtung des Vereinsarchivs zur Verfügung.

Findbücher angelegt

Alle Unterlagen bis zum Jahr 2000 wurden unter Mithilfe der Vereinsmitglieder Wolfgang Vallon, Franz Vallon und Ewald Link sortiert und zu Themengruppen wie Vorstand, Protokolle, Finanzen, Sportfeste, Mitglieder, Bauprojekte, zusammengefasst. Angelegt wurden zwei Findbücher. Eines für alle archivierten Schriftstücke und eines für die Fotos. Mit diesen Findbüchern können Unterlagen der Vergangenheit anhand von Stichwörtern wie Namen gesucht und falls vorhanden gefunden werden. Die Mitglieder des TV Schmie werden ab sofort ihr Vereinsarchiv nach dem Konzept von Jürgen Lotterer weiterführen. Bevor der nächste Archivierungseinsatz unternommen wird, werden jetzt erst wieder Dokumente, Urkunden, Fotos, Protokolle und andere Schriftstücke gesammelt. „Von Anfang an nach Sparten sortieren, dann ist es nachher einfach.“ Eine Erfahrung, die Franz Vallon beim Aufbau des Archivs gemacht hat. Seit Mai 2002 war das Team damit beschäftigt und die geleisteten Stunden liegen bestimmt im dreistelligen Bereich.

Keine Frage, die professionelle Aufarbeitung der Vereinsgeschichte und das Betreuen eines Vereinsarchivs ist eine zeitaufwendige Aufgabe. Jürgen Lotterer macht Mut, diese Aufgabe nicht zu vernachlässigen. Je weiter die Zukunft voranschreitet, desto wertvoller werde ein solches Archiv. Eine Auffassung, die den Mitgliedern des TV Schmie klar ist. „Was war, geht verloren, wenn sich nicht Personen darum kümmern“, so Ewald Link. Auch Martin Ehlers vom Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg will weiter für diese wichtige Aufgabe bei den Vereinen werben. Workshops zur Aufarbeitung von historischem Material biete das Institut an. Zukünftig könnten diese Angebote mit einem Ausflug nach Schmie verbunden werden, damit sich die Teilnehmer vor Ort ein praktisches Bild von einem modellhaften Vereinsarchiv machen können. „Was hier geschaffen worden ist, ist hervorragend“, so Gunter Bretschneider, erster Vorsitzender des Turngaus Neckar-Enz, bei der Einweihung des Archivs. Er sieht in diesem Bereich sowohl bei den Verbänden als auch bei den Vereinen dringenden Handlungsbedarf.

Schwierige Formate

Zum Abschluss gab Jürgen Lotterer den Mitgliedern des TV Schmie noch einen Tipp mit auf den Weg. Den Ersten Vorsitzenden des Vereins, Bernard Kuntic, interessierte der Umgang mit elektronischen Datenträgern. Der Ratschlag des Fachmannes war, Textdokumente regelmäßig auf gutem Papier auszudrucken und auf CD-ROMs abzuspeichern. Der Wandel von Dateiformaten und Datenträgern gehe so schnell voran, dass Daten nicht mehr gelesen werden können, die vor Jahren abgespeichert wurden.

Kontakt:

TV Schmie e. V.
Bernard Kuntic
Keuperstraße 1
75433 Maulbronn
Tel. 07043/40152
info@tv-schmie.de
http://www.tv-schmie.de/

Stadtarchiv Maulbronn, Rathaus
Klosterhof 31
75433 Maulbronn
Tel.: (07043) 103-16
Fax: (07043) 103-45

Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg
Frankfurter Str. 4
75433 Maulbronn
Tel.: 07043/ 10316 oder 17;
Fax: 07043/ 10345

Quelle: Pforzheimer Zeitung, 24.10.2003

Umbau und Kuratorenstelle der Newton-Foundation in Berlin

Die Nackten sind da! Mit Stöckeln und Peitschen marschieren die „Big Nudes“ vor dem Reichstag auf. Und damit kommt ein Lebenswerk dorthin, wo es auch hingehört: nach Berlin. Wo fände es einen besseren Platz als in der Geburtsstadt des kosmopoliten Künstlers? Nach jahrelangem Hickhack hat Helmut Newton gestern endlich den Vertrag unterschrieben für die „Helmut und June Foundation“. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit bringt es auf den Punkt: „Wir sind stolz und glücklich. Wir können nun einen Teil der Geschichte aufarbeiten. Damit bekommen wir zurück, was sonst nie Berlin verlassen hätte.“

Nun will das agile Fotografenpaar 1.000 Werke der Hauptstadt als unbefristete Dauerleihgabe zur Verfügung stellen, darunter auch Arbeiten von Ehefrau June, die unter dem Künstlernamen Alice Springs in den fünfziger Jahren ihre Karriere begann. Im Juni soll Eröffnung im neuen Domizil Jebensstraße 2, gleich am Bahnhof Zoo, sein.

Fachlich ist die Kollektion bei den Staatlichen Museen in den besten Händen, die sie künftig archivieren und betreuen wird. Newton hat seine Pläne für die Ewigkeit gemacht. „Wenn June und ich abkratzen, geht alles an Berlin!“ Der Akt-Erotomane, der in ein paar Tagen 83 Jahre wird, weiß, dass er in der Stiftung einen verlässlichen Partner – und sein Lebenswerk in seiner Heimatstadt nun eine verlässliche Heimstatt für die Zukunft gefunden hat.

Nur so ist es wohl auch zu erklären, dass Newton selbst tief ins Portemonnaie greift und die Kosten für die museumsgerechte Sanierung des Hauses in der Jebensstraße selbst trägt. Die Spendierhosen des nicht gerade als Verschwender bekannten Fotografen sind groß, zusätzlich will Newton noch einen Kurator finanzieren, der allein für die Dokumentation seiner Werke zuständig ist. Für Betrieb und Unterhalt kommt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf.

Sogar die Ausstellungskonzeption steht schon. In fünf Räumen sollen die großformatigen Fotografien zu sehen sein, zwei Räume werden das Frühwerk Newtons zeigen, darunter auch Arbeiten für die „Vogue“. Im zentralen Ausstellungsraum können die Besucher Porträts bewundern, in denen June und Helmut gegenseitig die Linse auf sich richteten („Us and Them“). Zu sehen sein werden dort auch Bilder zum Thema „Sex and Landscapes“.

Newton hat in den letzten Jahren nie einen Hehl daraus gemacht, wie gern er sein Fotoarchiv in seiner Geburtsstadt sähe. Für ihn war es im letzten Jahr wohl längst nicht mehr nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem eine emotionale. Mit dieser Rückkehr seines Oeuvres schließt sich ein Kreis. Als 18-Jähriger flüchtete er 1938 aus Berlin, dem Haus in der Jebensstraße galt sein letzter Blick aus dem fahrenden Zug am Bahnhof Zoo. Und passt nicht die urbane, raue Gegend rund um den Zoo, der Beate-Uhse-Shop samt Erotic Art Museum um die Ecke, wunderbar zu den unnahbaren, spröde-verruchten Newtonschen Girls, die von ungestillten Trieben und wildem Sex künden? Nichts ist ihnen doch ferner als eine sterile Museumsaura drumherum. Newton, der den Mode-Glamour und allen Chichi zur Genüge kennt, gefällt das.

In den restlichen Räumen des Gebäudes wollen die Staatlichen Museen einziehen, um ihre Aktivitäten für Fotografie zu bündeln. Bislang hatte das Museum für Europäische Kulturen seine Depots in der Jebensstraße. Die wird es nun räumen müssen, dafür aber ein neues Domizil erhalten. Ab Sommer 2005 wird die Sammlung in den Gesamtkomplex der Dahlemer Museen ziehen, was hoffentlich mehr Besucher bringen wird. Darum wird sich das neue Newton-Museum nicht sorgen müssen. Egal ob man nun Newtons „Big Nudes“ mag oder nicht – so zentral am Zoo gelegen wird das Haus zu einem Touristen-Magneten der A-Liga. Und Berlin kann einmal mehr mit internationalem Flair punkten.

Quelle: Die WELT, 23.10.2003

Lange Schatten einer Bluttat im Böblinger Forst

Württembergs Historiker kommen nicht um Köngen herum. Mit der Neckartalgemeinde verbunden ist ein dunkles Kapitel der Landesgeschichte. Das liegt zwar schon ein halbes Jahrtausend zurück, hat aber nichts von seiner Spannung eingebüßt.

Es waren bewegte Zeiten zu Beginn des 16. Jahrhunderts, auch im Württembergischen, wo Herzog Ulrich als Elfjähriger 1498 die Regentschaft angetreten hatte. Es war jener Ulrich, bei dessen Tod ein halbes Jahrhundert später der Esslinger Chronist Dionysius Dreytwein in seinem Tagebuch vermerken sollte, der Herzog sei ein „groß tyrannisierer, der wilden säu vatter“ gewesen. Der Reichsstädter mag in seiner Beurteilung überzogen haben, aber ganz daneben gelegen hat er sicher nicht. In den Augen vieler Zeitgenossen galt Ulrich als heimtückisch, verschwenderisch und grausam, sämtlich Attribute, die dem Landesherrn nicht ohne Grund angehängt worden sind. Einer dieser Gründe dürfte – heute würde man „sex and crime bei Hofe“ dazu sagen – in einem Techtelmechtel zu suchen sein, bei dem eine Frau aus Köngen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Ursula von Hutten, Gemahlin des herzoglichen Stallmeisters Hans von Hutten, war als Tochter des Köngener Ortsherrn Konrad Thumb von Neuburg aufgewachsen. Der Papa fungierte als Erbmarschall und zeitweise als Vormund des Herzogs.

So ist ein Stück Köngener Orts- mit der Landesgeschichte verknüpft, sogar mit einer blutigen Episode. Des Herzogs wohlgefällig auf Ursel ruhendes Auge muss im Zorn erglüht sein, als Hans von Hutten die heimliche Liebe des Landesherrn zu seiner Frau hinausposaunte. Bei einer Jagd im Schönbuch erstach Ulrich im Mai 1515 seinen Stallmeister hinterrücks und stellte sich danach als Femerichter hin. Hans von Hutten, so die herzogliche Lesart, soll etwas mit Sabina, Ulrichs Angetrauter, gehabt haben. So recht wollte das niemand glauben, und Ulrich ging in der Folge nicht nur seines guten Rufes, sondern auch für etliche Jahre seiner Herrschaft verlustig.

Ulrich von Hutten, ein Bruder des Gemeuchelten – dieser war übrigens vier Jahre in der Gruft der Köngener Peter-und-PaulsKirche beigesetzt, ehe er in die fränkische Heimat überführt wurde -, sorgte im ganzen Reich für eine „schlechte Presse“. In zahlreichen Pamphleten geißelte der Humanist des Herzogs Schandtat. Rufmord aus politischem Kalkül oder aus gekränkter Familienehre? Georg-Wilhelm Hanna, pensionierter Archivar des Main-Kinzig-Kreises, ist der Sache nachgegangen. Das Studium des Ruheständlers an der Frankfurter Universität mündete in eine umfangreiche Magisterarbeit, die sich mit den politischen Folgen des Mordfalles beschäftigt. Friedrich Karl Freiherr von Hutten sieht in Hannas Werk nicht nur einen Beitrag zur Familiengeschichte der Huttens. Hanna sei es „nach umfangreichem Quellenstudium gelungen, das traditionelle Bild des Herzogs von Württemberg, des Mörders meines Vorfahren Hans, zu korrigieren“. Auch der Köngener Geschichts- und Kulturverein unter seinem Vorsitzenden Bernd Weigel hat die Gelegenheit beim Schopf gepackt, eine Fallstudie mit lokalen Bezügen zu unterstützen. Der Verein gibt Hannas Arbeit als Broschüre heraus.

Bei einem Vortrag am 31.Oktober (20 Uhr) beleuchtet Hanna den Mordfall und seine Folgen. An dem Abend wird auch die 200-seitige Broschüre (16 Euro) verkauft.
 
Quelle: Stuttgarter Zeitung, 23.10.2003

Archivarbeit in Schongau

Die Entscheidung, wie es personell im Schongauer Stadtarchiv weitergeht, ist vertagt worden. Diese Angelegenheit sei am vergangenen Dienstag kein Thema in der nicht öffentlichen Sitzung gewesen, erklärte dazu am 22.10. Bürgermeister Dr. Friedrich Zeller. Damit werde sich der Stadtrat auf der nächsten Sitzung befassen, die für Dienstag, 25. November, terminiert ist. Bürgermeister Zeller erklärt, dass für ihn die Sachlage klar sei nach dem rechtsaufsichtlichen Bescheid des Landratsamtes Weilheim-Schongau, wonach die Führung des Archivs eine „Pflichtaufgabe“ darstelle.

Aus Sicht des Arbeitsrechts, so Rathaus-Chef Zeller weiter, habe der bisherige Museums- und Archivleiter Richard Ide Anspruch darauf, dass er die Stelle zu fünfzig Prozent ausfülle. Dem bisherigen Archivleiter könne nicht gekündigt werden. „Das ist meine klare Auffassung, betonte Zeller auf Anfrage. Der Mehrheitsbeschluss des Stadtrates, das Museum zu schließen, sei dagegen unumstößlich und habe zur Folge, dass bei der bisherigen Vollzeitstelle Ides die Hälfte der Stundenzahl wegfalle.

Zum Hintergrund

Die Stadt Schongau ist wie jede Stadt und Gemeinde zur laufenden Archiv-Arbeit verpflichtet. Diese Aufgabe dürfe keinesfalls eingestellt werden, auch nicht zeitweise. Dies betont die Kommunalaufsicht am Landratsamt, die den Beschluss des Schongauer Stadtrates zur Archivarbeit „rechtsaufsichtlich geprüft hat“. Während Bürgermeister Dr. Friedrich Zeller den Bescheid der Aufsichtsbehörde als Bestätigung seiner Einschätzung und die der meisten SPD-Kollegen ansieht, verweist CSU-Fraktionssprecher Peter Blüml darauf, dass die Stadt entscheidet, wer die Archiv-Arbeit in welchem Umfang macht.

Mit Erleichterung hat den Bescheid des Landratsamtes Richard Ide aufgenommen; der 38-Jährige ist seit 1996 Stadtarchivar und Museumsleiter in Schongau. Er bewertet die Aussage des Landratsamtes, das von einer Pflichtaufgabe spricht, als „eine sehr gute Entscheidung fürs deutsche Archivwesen.“ Denn der Beschluss des Schongauer Stadtrates vom 16. September, die Archivarbeit einzustellen, habe „in der Republik weite Kreise“ gezogen. Zur persönlichen Zukunft könne er sich jetzt noch nicht äußern, meinte Ide am Montag.

Bürgermeister Dr. Friedrich Zeller erklärte am Montagnachmittag, eine betriebsbedingte Kündigung könne nicht ausgesprochen werden. Er schlussfolgert, dass der Archivleiter knapp 20 Stunden pro Woche für diese Aufgabe aufwendet. Denn bisher sind 50 Prozent der Vollzeitstelle auf das Museum und die anderen 50 Prozent auf das Stadtarchiv gebucht worden.

Kündigung nur bei Schließung

SPD-Stadtrat Peter Huber geht davon aus, dass dem Stadtarchivar und Museumsleiter nur dann eine rechtswirksame Kündigung ausgesprochen werden könne, wenn beide Einrichtungen „dauerhaft“ geschlossen werden. Dies sei aber mit dem Bescheid der Kommunalaufsicht passe.

Anders interpretieren Peter Blüml (CSU) und Roland Heger (Freie Wähler) den Bescheid des Landratsamtes. Von einer Schließung dieser Einrichtung sei ohnehin nie die Rede gewesen, verweisen sie auf den gemeinsamen CSU/UWV-Antrag, für den es in der Sitzung am 16. September eine Mehrheit gegeben hatte. Heger meint, warum soll ein Archiv in Schongau nicht neben- oder ehrenamtlich betreut werden – so wie in Peißenberg.

Peter Blüml bleibt bei der Ansicht, dass die Archivarbeit für Altbestände bis auf Weiteres zurückgestellt werden könne und die laufende Registratur aktueller Vorgänge im Rathaus (Protokolle, Rechnungen etc.) innerhalb der Verwaltung anders organisiert werden könne.

Kontakt:
Stadtarchiv Schongau
Christophstr. 53-57
86956 Schongau
Tel.: (08861) 20602
Fax: (08861) 200625

Quelle: Merkur Online, 14.10.2003 und Merkur Online, 23.10.2003

Eine ganze Welt im gelben Karton

Wenn die Menschen glauben, dass die alten Geschichten bei ihm ihren ewigen Frieden finden, muss Matthias Buchholz sie enttäuschen. Ein Archiv ist kein Grab, ein Archivar kein Bestatter, und ohnehin ist es doch nicht so, dass die Vergangenheit eines Tages einfach stirbt. Höchstens die Erinnerung daran, was Matthias Buchholz für eine Gefahr hält. „Vergangenheit ist immer aktuell, wenn es um sie so etwas wie ein Kartell des Schweigens gibt“, sagt er, und deshalb packt er nun diesen Postkarton voller düsterer Vergangenheit und geht damit von den abgedunkelten Räumen im Parterre der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur durch kaltes Neonlicht und nackte Gänge hinauf in den ersten Stock, wo es etwas heller ist.

Er ächzt leise an der Treppe und schwankt ein bisschen. Aufarbeitung ist beschwerlich, aber Matthias Buchholz, der ein schmächtiger Mann ist, lässt sich nichts abnehmen. „Die Kiste ist nicht schwer, nur etwas unhandlich.“ Ein paar Meter noch, links in die lange Allee aus gelben Türstöcken, einen der vielen Endloskorridore dieses Gebäudeklotzes Otto-Braun-Straße 70-72, der sich wie ein trauriges Ungeheuer aus der Berliner Asphaltebene am Alexanderplatz erhebt. Matthias Buchholz lässt die Kiste fallen. In seinem Büro herrscht die Unordnung eines Mannes, der ab und zu ganz gerne in Arbeit versinkt. Draußen rauscht gleichgültig der Verkehr vorbei. Der Archivar schnauft. Bitteschön, sagt sein Blick, viel Spaß beim Tauchgang in die Abgründe des deutschen Sports.

Vielsagende Titel

Es ist in diesem Moment tatsächlich so, als habe sich das Tor zur Unterwelt einen Spalt weit geöffnet. Allerdings wirklich nur einen Spalt weit. Diese Geschichte des systematischen Dopings in der DDR passt nicht in eine Kiste, sie ist zu groß, und sie hat noch ganz andere, viel klarere Zeugnisse neben diesen paar Forschungsarbeiten im gelben Karton, die vielsagende Titel tragen: „Zur Wirkung anaboler Steroide auf die sportliche Leistungsentwicklung in den leichtathletischen Sprungdisziplinen.“ – „Zur Bestimmung der Wirkung von Training und wiederholter Applikation von Oral-Turinabol auf die Leistungsentwicklung sowie Veränderung ausgewählter biologischer Parameter im Venenblut am Beispiel leichtathletischer Sprintdisziplinen.“ – „Berichte über die Wirkung des Einsatzes von STS646 bei der Handballnationalmannschaft Frauen.“ Und so weiter.

Es gibt weitere Akten aus dem DDR-Nachlass. Papiere, die Täter und Geschädigte nennen. Quellen, aus denen Dokumentationen wuchsen. Beweismaterial, das vor Gericht bestand. Im vergangenen Jahr hat Professor Werner Franke, Molekularbiologe an der Universität Heidelberg, nach jahrelanger Enthüllungsarbeit mit seiner Frau, der früheren Diskuswerferin Brigitte Berendonk, dem Archiv der Stiftung solche Akten geschenkt. Franke wollte, dass jeder sie einsehen kann. Doch das hat nicht ganz geklappt, ein Teil seiner Schenkung bleibt im Schatten des Stiftungsarchivs. Buchholz kann vorerst nur die gelbe Kiste bieten. Es tut ihm leid. Es geht nicht anders.

Frankes Material ist zu brisant, was die Allgemeinheit davon sehen darf, bestimmt nicht er, auch nicht Buchholz oder die Stiftung. Sondern das deutsche Rechtssystem, und das sagt, dass man die Vergangenheit, die sich in abgeschlossenen Fällen spiegelt, nicht beliebig wieder hervorkramen darf, wenn sie einzelne Privatpersonen belastet. Es könnte passieren, dass der Antidoping-Kämpfer Werner Franke in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Da ist Buchholz lieber vorsichtig und beugt sich dem Eindruck, den er, gebürtig in Magdeburg, Jahrgang ’71, beredt und belesen, bei aller Bescheidenheit mal so umschreiben würde: „Maßgebliche Teile der Gesellschaft sind nicht wirklich daran interessiert, das Thema Doping grundlegend aufzuarbeiten.“

Viele Beobachter haben das festgestellt, und vor allem erleben sie, dass das DDR-Doping zunehmend in den Nebel einer kalkulierten Vergesslichkeit rückt. Der Sport ist eine deutsche Leidenschaft, Wirtschaftsfaktor, gesellschaftliche Klammer. Eine Traumfabrik, die noch echte Helden auswirft. Da stören Misstöne nur und trüben die bunte Kulisse, in der sich wie sonst nirgends Geld und Moral verbinden lassen.

Und so dosieren die großen Sportbetreiber sehr gezielt die Erinnerung an die Geschichten von einst, die Medien, die Manager, und auch die Verbände als staatlich gestützte Sachwalter des Sportbetriebs: Ihre Sportgeschichte ist voll von Legenden und sagenhaften Heldentaten. Was nicht dazu passt, geben sie frei zum Vergessen. Und das DDR-Doping passt nicht dazu nach all dem Ärger, den es in den Neunzigerjahren entfachte: nach den Recherchen der Brigitte Berendonk, ihrem Buch „Doping-Dokumente“, Frankes Einsteigen, den Klagen früherer Athleten.

Heute steht fest: Das Dopingsystem in der DDR gab es, es hat Jugendliche rücksichtslos mit Chemie gepäppelt und die Gesundheit vieler früherer Sportler zerstört. Die Weltrekorde und Olympiasiege der DDR-Stars waren nicht nur Ergebnis von Talent und Fleiß, sondern auch einer flächendeckenden, staatlich verordneten Muskelmast. Doch vor drei Jahren endete der Prozess gegen die Verantwortlichen und ihre Vollstrecker mit Freiheitsstrafen zur Bewährung und Geldbußen, in den Verbänden nahmen die verurteilten Trainer wieder ihre Arbeit auf. Ende März 2003 ist die Meldefrist für Geschädigte des Zwangsdopings abgelaufen, denen der Staat per Gesetz eine finanzielle Entschädigung zugebilligt hat, zwei Millionen Euro insgesamt. Nun droht das große Vergessen.

Dabei ist das Thema noch ziemlich lebendig. Natürlich, die Meldefrist ist zu Ende, und der eigens gegründete Verein zur Dopingopfer-Hilfe hat seine Dependance in Berlin abgeben müssen. Aber Birgit Boese, in ihrer DDR-Jugend Kugelstoßerin, vom Doping gezeichnet und weiterhin als Beraterin der Dopingopfer tätig, sagt: „Das ist absolut kein Schlusspunkt.“ Der Kampf geht weiter, denn die Frist war kurz. Viele Dopingopfer erfuhren zu spät von ihren Ansprüchen, andere scheuten die Meldung aus Scham. Am Freitag beginnt zudem in Frankfurt ein neuer Prozess zur ungeliebten Vergangenheit. Die frühere DDR-Schwimmerin Karen König verklagt das Nationale Olympische Komitee auf Schadenersatz. Schließlich hat es Vermögen des DDR-NOKs übernommen.

Hang zur Selbsttäuschung

Und im Ausland ist man sensibel: Zu Beginn des Jahres empörte sich die britische Presse über ihre Siebenkampf-Olympiasiegerin Denise Lewis, weil sie sich dem deutschen Ekkart Arbeit anschloss, der vor der Wende als DDR-Verbandstrainer der Abteilung Wurf das Dopingsystem mitstützte – genauso wie der Cheftrainer des Deutschen Leichtathletikverbandes. Bernd Schubert war als DDR-Verbandstrainer Sprung/Mehrkampf einst Arbeits Kollege. Und an Franke wenden sich Journalisten aus aller Welt. Sie sind brennend interessiert an den Leidtragenden des DDR-Sports. Denn ihre Geschichten erzählen von den Gefahren des Dopings. Franke sagt: „Das Thema ist im Ausland absolut in.“

In Deutschland dagegen winkt man ab oder plaudert über das Thema hinweg. Es gibt ein paar besorgte Politiker, Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen Sportbundes, hat Verfehlungen des Sports eingeräumt. Aber sonst? „Sehen Sie sich doch diese unglückseligen Nostalgie-Shows an“, sagt Birgit Boese. Da bekommt sie noch einmal die Errungenschaften des Systems vorgeführt, das sie von einem arglosen Mädchen in eine körperlich gebrochene Frau verwandelt hat. Und zwar in der ganzen Oberflächlichkeit kommerzieller Unterhaltungskunst, die alles erlaubt, nur keinen tieferen Gedanken. Sie kann das kaum ertragen, und auch wer die Wirklichkeit nicht am eigenen Leib spürte, schüttelt den Kopf. „Neulich. Ostalgie-Show“, fängt Matthias Buchholz an und man merkt gleich, dass er jetzt keinen Witz erzählen wird. „Da haben sie die DDR-Sportler eingeladen, haben die abgefeiert. Und kein Wort, aber nicht einmal andeutungsweise die Frage Doping.“

Das Gefällige ist im Trend. Die Art, wie das DDR-Doping im Bewusstsein der Öffentlichkeit an Konturen verliert, ist da nur ein Beispiel für einen deutschen Hang zur Selbsttäuschung. Matthias Buchholz ist selbst ein Kind der DDR, aber das, was mittlerweile Ostalgie heißt, diese Rückbesinnung auf irgendeine überholte Plattenbauromantik, hat er nie empfunden. Dazu hat er die DDR zu gut verstanden. Sollen die Leute doch über die alten Tempo-Linsen schmunzeln und über die Bambina-Schokolade. „Es ist ja lustig, wenn sie das aus dem Regal nehmen.“ Aber was sagt das über die DDR? „Da hat Eppelmann etwas ganz Zutreffendes gesagt.“ Rainer Eppelmann, einst DDR-Bürger, SED-Kritiker, heute Bundestagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der Stiftung. „Er befürchtet, dass bei all den Ostalgie-Shows irgendwann keiner mehr weiß, warum die Leute damals auf die Straße gegangen sind.“ Und dazu fällt Buchholz die Begegnung mit einem früheren Lehrer ein. „Der fragte, wo ich arbeite. Ich sag: Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Bitte wo? Hab ich noch mal gesagt, wie das heißt. Er fragt: Was gibt’s denn da aufzuarbeiten? Ich sag: Na ja, man konnte hier nicht seine Meinung sagen, Leute sind in den Knast gewandert, sind umgebracht worden. Er antwortet: Ich konnte immer meine Meinung sagen. Ich sag: Vielleicht hatten Sie die richtige. Da ist er gegangen.“ Matthias Buchholz sagt: „Manche wollen nicht wahrhaben, wie perfide dieses System war.“

Also schweigen sie. Denn Schweigen ist einfach, und Schweigen schützt. Kein Trainer aus dem alten Dopingsystem, kein Funktionär, kein Arzt hat sich je freiwillig bei den Geschädigten entschuldigt. Auch nicht das Unternehmen Jena-Pharm, heute eine hundertprozentige Tochter des Schering-Konzerns, obwohl Jena-Pharm in der DDR die bittere Sportler-Medizin lieferte. Die Spende des Konzerns für den Opferhilfe-Fonds in Höhe von 25 000 Euro wollte Schering ausdrücklich nicht als Schuldeingeständnis verstanden wissen.

Selbst jene ehemaligen DDR-Trainer, die heute hohe Posten bekleiden und plötzlich aus voller Überzeugung die Antidoping-Bestimmungen ihrer Verbände mittragen, haben öffentlich noch kein Zeichen der Reue gezeigt. Bernd Schubert zum Beispiel gibt kein Interview zu seiner Vergangenheit. Niemand tut es, sie scheuen die Diskussion. Ein Fernsehreporter von damals bittet höflich um Vergebung. Und Klaus Huhn, in der DDR Sportchef des SED-Organs Neues Deutschland und Multifunktionär, seufzt und lässt alles abprallen mit seiner mächtigen Stimme, die manchmal so laut durch den Telefonhörer donnert, dass man den ein bisschen vom Ohr weghalten muss. Ein Interview über Sportgeschichte? „Ich glaube nein. Es bringt doch nichts.“ Zum Thema Doping? „Auch müßig. Wir müssten fünf Stunden zusammensitzen, und die habe ich nicht. Wenn Sie mich etwas anderes gefragt hätten, hätte ich gerne geholfen. Einen schönen Tag. Meinetwegen auch eine schöne Woche. Man wird Ihnen schauerliche Geschichten erzählen. Die können Sie glauben oder nicht. Good luck to you.“

Die Biografien all dieser Menschen haben die Wende nicht verkraftet, sie haben früher gut gelebt, und jetzt versuchen sie, den Erfolg zu retten, den sie in der DDR genossen haben. Klaus Huhn sagt: „Es hat sich nichts Wesentliches für mich verändert durch Akten.“ Und das klingt wie die Gegenfrage zu all den Vorwürfen, deren Antwort er nie abwarten würde: Soll ich mein Selbstbildnis zerstören, bloß weil eine Mauer gefallen ist? Soll Kristin Otto, die frühere DDR-Schwimmerin, ihren Stolz auf sechs Olympische Goldmedaillen von Seoul 1988 verleugnen? Ihre Lebensleistung als Athletin? Ihre Glaubwürdigkeit als Sportjournalistin, die sie heute beim ZDF mehr denn je braucht? Soll die Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler ihre ganze Jugend ins Zwielicht rücken? Oder die Eiskunstläuferin Katarina Witt an den Grundfesten ihres Ruhms rütteln? Nur weil der Sportwissenschaftler und DDR-Aufarbeiter Giselher Spitzer, ein gebürtiger Kieler, sagt: „Es gibt mittlerweile Beweise, dass im Zwangsdopingsystem der DDR auch Eiskunstlauf der Frauen eine Rolle spielte.“? So stark sind sie alle nicht, so stark sind wahrscheinlich sowieso nur ganz wenige. Matthias Buchholz sagt: „Ich denke, dass es sehr schwer ist, sich mit einer Vergangenheit auseinander zu setzen, die einen selbst in Frage stellt.“

Gegenwind aus dem Osten

Es bleibt die Leere, die das Vergessen der Prominenten hinterlässt, und das Problem, dass sie diese Leere von Zeit zu Zeit füllen müssen. Schließlich wollen die Deutschen hoch hinaus mit ihrem Sport. Sie wollen Olympia 2012 veranstalten. In Leipzig, wo das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport steht, zu DDR-Zeiten das Zentrum staatlicher Dopingforschung. Ausgerechnet. Die Bewerber haben Probleme, weil sie zu sorglos mit den Stasi-Verstrickungen hoher Funktionäre umgingen. Irgendwann könnte auch das Thema Doping wieder hochkommen. „Wenn die Bewerbung ernst gemeint ist“, sagt Spitzer, „muss man diese Belastung eigentlich aufarbeiten.“

Aber Aufarbeitung ist beschwerlich. Jahrelang hat Spitzer, ausgezeichnet mit dem Preis des Dopingopfer-Hilfe-Vereins und Beirat der Antidopingagentur Nada, als Forscher das Renommee der Universität Potsdam gemehrt. Jetzt ist es offenbar genug, die Granden des Hauses scheint ein steifer Gegenwind aus Osten anzuwehen. Jedenfalls wurde Spitzers Vertrag nicht verlängert. Er hat auf Wiedereinstellung geklagt und will nicht zu viel schimpfen. Er brummt wie ein mürrischer Bär. Die Zeiten sind seltsam.

Die Kraft der Verdrängung ist groß, und doch hat sie nicht gewonnen. Die Verdrängung ist eine weitere Schwäche des ehrgeizigen deutschen Sports geworden, die ihn mit seinen hohen moralischen Ansprüchen stetig in Widersprüche verstrickt. Sie hat ihn angreifbar gemacht. Man muss kein Fachmann sein, um das zu sehen. „Ich glaube“, sagt Matthias Buchholz und betont, dass nun eine ganz und gar subjektive Analyse folgt. „Ich glaube“, sagt er also, „wenn man sich ernsthaft mit dem Thema DDR-Doping beschäftigen würde, müsste man auch die Praktiken im Sport überhaupt in Frage stellen. Und das will man ja nicht.“

Er selbst hält wenig vom Vergessen. Das Vergessen schlägt Löcher. Ein Archivar mag keine Löcher. Die Leute sollen ruhig kommen und in seine gelbe Kiste schauen. Vielleicht kann er eines Tages sogar Frankes brisantes Material zeigen. Obwohl der Professor sich in dieser Sache ja durchaus zu helfen weiß. Er hat Kopien seiner Akten in die USA gebracht. Sie liegen an der Universität von Austin/Texas. Abrufbereit auch im Internet. Es ist alles in Ordnung. Die unbequemen Erinnerungen sind in Sicherheit.

Quelle: SZ, 22.10.2003

Datenschutz erschwert Arbeit der Archivare

Etwa dreißig Archivarinnen und Archivare, Volkskundler und im Archivwesen ehrenamtlich Tätige aus den Landkreisen München und Starnberg kamen am Dienstag in Planegg zusammen, um Erfahrungen auszutauschen. Durch das Programm mit mehreren Vorträgen führte Erika Klemt, Archivarin in Planegg.

Im Mittelpunkt des Interesses stand der Vortrag von Horst Gehringer, Diplom-Archivar beim Stadtarchiv München. Er referierte über Datenschutz und Forschungsfreiheit und ging vor allem auf rechtliche Aspekte der Archivbenutzung ein. Nach dem bayerischen Archivgesetz müssen personenbezogene Daten bis zehn Jahre nach dem Tod eines Menschen unter Verschluss bleiben, „erst dann sind die Unterlagen frei“, so Gehringer.

Weiterer wichtiger Punkt seiner Ausführungen war das unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung der Bürger und dem in der Verfassung verankerten Artikel zur „Freiheit zur Forschung und Lehre“. Dieser Konflikt mache es schwierig, „auf einen grünen Zweig zu kommen“, sagte Gehringer.

Nicht minder interessiert waren die Gemeindearchivare, darunter Fred Fox (Neuried), Anton Grau (Planegg) Friederike Tschochner (Gräfelfing) und Wolf-Dietrich Köhler (Krailling) an dem Vortrag Klemts über den bildungspolitischen Auftrag der Archive. Besonders wichtig sei es, Präsenz zu zeigen, denn „nur wer weiß, dass es Archive gibt, kann sie nutzen“, weiß Klemt. Man müsse „Transparenz schaffen“.

Konrad Ganter, Kreisarchivpfleger in Unterhaching, ging in seinem Vortrag vor allem auf die Aufgaben eines Kreisarchivpflegers ein. „Er ist in erster Linie Berater“, sagte Ganter. Er sei beispielsweise Ansprechpartner für personelle Fragen, Sicherunsmöglichkeiten und die Aktenaussonderung eines Archivs.

Auch die Auswirkungen der Finanzlage der Kommunen auf die Arbeit der Archive kam zur Sprache. Viele Gemeinden können ihre Archivarbeit nicht nach ihren Wünschen gestalten, weil das nötige Geld fehlt. Doch es gibt Ausnahmen, etwa die Gastgeber des Treffens. Erika Klemt merkte an, dass „die finanzielle Lage in Planegg gut“ und die Finanzierung des Archivs gewährleistet sei.

Quelle: Merkur Online, 22.10.2003

Bildersammler des Berner Wunders

Er darf nicht fehlen, wenn es um das «Wunder von Bern» geht: Johan Schlüper aus Erkelenz bei Köln, der vielleicht ehrgeizigste Sammler von jedwelchen Gegenständen, die mit dem deutschen WM-Triumph von 1954 in Bern zu tun haben. Er ist mit seiner Frau nach Bern angereist, um bei der Schweizer Vorpremiere von Sönke Wortmanns Kinostreifen «Das Wunder von Bern» dabei zu sein. Den Film, bei dessen Entstehung er als Berater fungierte, findet er «ganz toll». Er lasse niemanden, aber wirklich auch niemanden unberührt.

Schlüper nutzt den Abstecher in die Schweiz, um seine Projekte im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2004 voranzutreiben. Auf der Baustelle des neuen Wankdorfs würde er im nächsten Sommer gerne Material aus seinem reichen Fundus an Eintrittskarten, Plakaten, Originalfotos, Programmheften, Trikots, Fussballschuhen und Zeitungsausschnitten zeigen. Im Hotel Belvédère in Spiez, wo die nachmaligen Weltmeister logierten, ist er Kurator einer Ausstellung zur WM 1954. Einen Besuch abstatten wird Schlüper auch dem Stadtarchiv Bern, dem er 2004 diverse Gegenstände zur Verfügung stellt.

Johan Schlüper hofft aber auch, im Raum Bern die eine oder andere heisse Spur zu finden, die ihn näher an sein ganz grosses Ziel führt: das komplette Filmmaterial des Finals Deutschland – Ungarn. Von diesem legendären Regenspiel ist im Verlauf der letzten beinahe 50 Jahre einiges an bewegten Bildern verloren gegangen. Als Schlüper vor über einem Jahrzehnt die Suche aufnahm, waren von «den bedeutendsten 90 Minuten unserer Fussballgeschichte» (Schlüper) nur gerade 18 Minuten vorhanden. Im Oktober 2004 ist der gelernte Kaufmann trotz grossen Anstrengungen immer noch ein ganzes Stück vom «Happyend» entfernt. Etwas über 30 Minuten hat er bisher in Privatarchiven aufstöbern können. Dennoch gibt der unermüdliche Sammler nicht auf. Der Schlüssel zum späten Erfolg liegt möglicherweise im Raum Bern bei drei leeren Filmschachteln, die Schlüper 1994 im Keller des Schweizerischen Fussballverbands in Muri fand. Die Schachteln waren beschriftet mit «Final in Bern/4. Juli 1954/Deutschland – Ungarn». Der dazugehörige Inhalt müsse bei jemandem im Estrich liegen, glaubt Schlüper. Sollte tatsächlich jemand eine verstaubte Filmrolle mit dem historischen Spiel bei sich zuhause haben, winkt ihm eine anständige Belohnung. Schlüper bietet für jede Minute, die ihm noch fehlt, 500 Schweizer Franken.

Quelle: eBund, 22.10.2003