Aus der neuen Dürrner Ortschronik (3)

Die neue Ortschronik „Dürrn“ zeichnet die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg“ im Enzkreis in Baden-Württemberg nach. Der Verfasser der Ortschronik, Konstantin Huber, ist Leiter des Kreisarchivs des Enzkreises in Pforzheim. Mit drei einzelnen Folgen sollen Einblicke in die neue Dürrner Ortschronik gegeben werden.

Folge 3: Aus „Flüchtlingen“ werden Neubürger: Die Integration der Heimatvertriebenen

Als Folge des von Deutschland begonnen Zweiten Weltkrieges hatte Nachkriegsdeutschland Millionen von Heimatvertriebenen aufzunehmen – eine Last, die in erster Linie die Gemeinden zu tragen hatten. Das Hauptproblem für diese große Zahl von Vertriebenen war zunächst deren Unterbringung, doch auch Mobiliar, Kleidung, Brennholz, Lebensmittel und Medikamente fehlten. Die Menschen brauchten Arbeit, die Kinder benötigten Schulbildung, und weil die allermeisten Vertriebenen Katholiken waren, fehlten auch Kirchen in der Nähe. Die Länder mussten eine bestimmte Anzahl von Heimatvertriebenen aufnehmen, die sie zunächst in Flüchtlingslagern unterbrachten. Von dort wurden die Menschen im Umlageverfahren auf die Landkreise und Gemeinden weiter verteilt. In Dürrn schlug man wie andernorts Feldbetten auf und nutzte die öffentlichen Räumlichkeiten in der Schule sowie im Rathaus, bis man die Menschen in die Privathäuser verteilte, wo Eingesessene und Vertriebene auf engstem Raum zusammenrücken müssten.

Abb.: Neue Heimat für Vertriebene: Bau der Siedlung „bei der Mühle“, später Erlenbachstraße (1949).

Während die im Dorf einquartierten Evakuierten aus den ausgebombten Großstädten allmählich in ihre wieder im Aufbau befindlichen Heimatstädte zurückkehren konnten, steckten die Vertriebenen in ihren beengten Wohnverhältnissen im wahrsten Wortsinn in einer Zwickmühle: Einerseits wollten sie so bald wie möglich ausreichend Wohnraum, andererseits hofften sie – wie auch die sie beherbergenden Dürrner – weiterhin auf eine Rückkehr in die alte Heimat. Ende der 1940er Jahre schwand diese Hoffnung immer mehr. Beide Einwohnergruppen mussten sich damit abfinden, dass Dürrn für viele Vertriebene zur dauerhaften Bleibe werden würde. Die amtlichen Stellen pochten auf baldige Integration und drängten auf Zuteilung von Siedlungsgelände.

Die ersten „Ostflüchtlinge“ kamen ab Frühsommer 1945 nach Dürrn, darunter die Familien Milder, Olbrich, Tomkowitz sowie im Juli 1946 die achtköpfige Familie Waschka aus Stangendorf in Mähren. In den Monaten April bis August 1946 betrug die Anzahl der Vertriebenen jeweils zwischen 14 und 37. Doch die große Welle sollte erst noch folgen, denn im Herbst 1946 kamen über 100 Sudetendeutsche in drei großen Transporten nach Dürrn. Zuvor war durch den örtlichen Wohnungsausschuss der Wohnungs- und Personenbestand aufgenommen worden. Der erste große Transport brachte am 11. September gleich 45 Personen aus dem Flüchtlingslager Kislau. Die meisten dieser Vertriebenen stammten aus Hostau und Plöss, darunter die Familien Brix, Penkert und Pöhnl. Am 26. September folgten 30 weitere Neubürger aus dem Lager Hockenheim, die meisten aus Saaz stammend, unter ihnen die Pauker und Storch (letztere aus Welmschloss). Der dritte große Schub am 13. Oktober brachte schließlich 29 Personen, vor allem aus Stangendorf/Mähren, darunter die Familien Friedl, Heinisch und Hofmann. Damit hatte die Bevölkerungszahl in Dürrn fast 1.000 erreicht, und die rund 140 „Ostflüchtlinge“ machten dabei 15 Prozent aus; ebenso groß war der Anteil der Evakuierten. Das bedeutet: Jeder dritte Einwohner war erst in den vergangenen ein bis zwei Jahren nach Dürrn gekommen. Nach 1946 erhöhte sich die Anzahl der „Ostflüchtlinge“ weiter; so bis Ende 1950 auf 169, bis Ende 1952 auf 184 und bis Ende 1953 auf 226 Personen sowie 1958 auf 239 (was dann 23 % entsprach). Nach dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 war eine größere Zahl von „Sowjetzonenflüchtlingen“ unterzubringen. Nach Dürrn wurden im Juli und September 8 bzw. 17 Personen zwangsweise zugewiesen. Noch immer aber war das Wohnungsproblem groß; so lehnte der Gemeinderat 1954 die Aufnahme einer weiteren Sowjetzonen-Flüchtlingsfamilie ab, da keine ordnungsgemäße Unterbringung gewährleistet werden konnte.

Das Bild des alten Dorfes verändert sich

Die Aufnahme der Heimatvertriebenen erforderte entschiedenes Handeln. Doch der dringend notwendige Wohnungsbau kam nur schleppend in Gang. 1947 war lediglich eine Zweizimmerwohnung erstellt worden, was Bürgermeister Schäfer mit geringer Baustoffzuteilung und Durchführung des Landwirtschaftsnotprogramms entschuldigte. Erst nach dem Aufbaugesetz von 1948 beschloss der Gemeinderat die Umlegung in den Gewannen „Äußere Wiesen“, „Roter Garten“ und „Wassergärten“. Der bereits 1931 gefasste Beschluss zur „Durchführung der Friedenstraße“ wurde also ab 1949 und teilweise mithilfe von Notstandsarbeiten umgesetzt. Als eine Rückkehr der Heimatvertriebenen zunehmend unwahrscheinlicher geworden war, regte das Landratsamt die Erschließung einer Siedlung nach dem Modell der Gemeinde Stein an, worauf der Gemeinderat im Dezember 1948 das Gebiet „Bei der Mühle“ vorschlug, die heutige Erlenbachstraße. Die Gemeinde sah sich finanziell aber nicht zu Vorleistungen in der Lage und verwies die Bauinteressenten an eine Baugenossenschaft.

Bei vielen Vertriebenen stieß die Idee für die Siedlung auf offene Ohren, konnten sie doch hier separat wohnen. So schrieben die Familien Treffny, Bartl, Pöhnl, Kruschina, Dongus, Storch, Förster, Ott, Pauker und drei weitere 1949 an Landrat Dissinger: „Die tiefe Trauer um die verlorene Heimat kann nur gemildert werden, wenn uns ein Stück Erde nach unseren eigenen Herzenswünschen geboten wird. Viel Sonne, gute Waldluft, trockener Wohnraum soll die durch bisher ungeeignete Unterbringung sowie schlechte Ernährung und vorhergegangene Mißhandlungen untergrabene Gesundheit teilw. wiederherstellen. Genug Platz zu ein. späteren Weiterentwicklung, ausreichendes Gartenland, beim Haus, genügend Gelände für zukünftige Wohnungsbauten der restlichen 25 Familien. Dies Alles bietet uns das ausgewählte Gelände in vollkommenem Maße. Wir appellieren daher an Ihr gutes Herz sowie an Ihre hohe Auffassung der Demokratie, uns auch bei dieser für uns weittragenden Entscheidung mitbestimmen zu lassen, und bitten Sie aus vollstem Herzen, den gewünschten Bauplatz zu genehmigen.“

Gebaut wurde überwiegend über die Baugenossenschaft „Neue Heimat“, Ausfallbürgschaften trug die Gemeinde. Den Plan der Baugenossenschaft, zwei Familien in einem Haus unterzubringen, lehnten die Siedler jedoch ab. Im April verfasste Gustav Treffny ein weiteres Schreiben an das Landratsamt. Er wünschte „Einfamilienhäuser nach dem Steiner Muster oder ähnlich“. Als Begründung führte er weiter aus: „Zur Verwurzelung in der uns zugew[iesenen] Heimat, aber auch zur Abwehr aller linksradikalen Einflüße ist es am besten, wenn ein ruhiges Daheim, ein kleines Stück Eigentum, ungeteilt nach eigenem Willen gestaltet und ausgebaut werden kann.“ Das Richtfest für die Siedlung „bei der Mühle“ wurde im September 1949 gefeiert, und 1950 lebten dort 35 Personen. Schließlich baute die Gemeinde doch noch selbst dort. Mit dem Lastenausgleichsgesetz 1952 besserten sich langsam auch die Vermögensverhältnisse der bei der Währungsreform 1948 noch benachteiligten Neubürger, wenngleich die eigentlichen Entschädigungen erst ab 1957 flossen.

In der Wirtschaftswunderzeit gelang die Eingliederung der Neubürger. Der frühere Mythos von der „schnellen Integration“ ist mit darauf zurückzuführen, dass man diese von politischer Seite bereits dann als gelungen betrachtete, wenn die Heimatvertriebenen ein Dach über dem Kopf, Arbeit und eine Kirche zum Beten hatten. Doch in den Herzen der Menschen sah es oft anders aus. Denn die Integration war nur gegen Widerstände der Stammbevölkerung, die in vielen Bereichen vor dem Nichts stand, und unter starkem Druck der Militärregierung möglich geworden. Doch die Ressentiments schwanden, und schon 1949 gab es die ersten Verlobungen zwischen evangelischen Alt- und katholischen Neubürgern.

Konstantin Huber

Siehe auch:
Folge 1: Die Dürrner Schnapstrinker – oder: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung“
Folge 2: Der Dürrner Charakter

Info:
Konstantin Huber:
Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg.
Mit Beiträgen von Christoph Florian und Martin Schickle
Ostfildern und Pforzheim 2017
520 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-7995-0692-2

Verschluss-Sachen. Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit

Neue BStU-Publikation erschienen

Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit „Hetzbuchstaben“, ein fehlerhaft produzierter Kronkorken – in vierzig Jahren hat das DDR-Ministerium für Staatssicherheit einige kuriose Beweisstücke beschlagnahmt. Sie lagern heute an einem der Standorte des Stasi-Unterlagen-Archivs. Die Publikation „Verschluss-Sachen“ des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) stellt jeweils eine besonders spannende Archivalie aus jedem Jahr vor. Jedes Fundstück erzählt eine eigene kleine Geschichte. In 40 Episoden bringen die drei Autoren den Leserinnen und Lesern die DDR-Geheimpolizei auf eine andere Weise näher.

Abb.: Streichholzschachtel mit angeblichem Urangestein (Quelle: BStU/Appl)

Die BStU-Autoren sind promovierte Historiker und Autoren weiterer Werke zur Geschichte der Staatssicherheit. Karsten Jedlitschka ist Referatsleiter in der Aktenauskunft des BStU, Jens Niederhut ist als Referatsleiter für das audiovisuelle Archivgut verantwortlich. Philipp Springer arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung des BStU. Die Fotoaufnahmen stammen von Christian Appl, dem Leiter der Fotowerkstatt.

In der Veranstaltungsreihe „Quelle: Stasi-Unterlagen-Archiv“ stellt Philipp Springer ausgewählte Kapitel vor: 29. August 2017, 18.00 Uhr, Veranstaltungsort: Ehemalige Stasi-Zentrale, „Haus 22“, Ruschestraße 103, 10365 Berlin, Eintritt frei

Veranstalter:
Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen
10106 Berlin
Telefon: (030) 23 24-61 05
Fax: (030) 23 24-71 79
veranstaltungen@bstu.bund.de

Literaturhinweis:
Karsten Jedlitschka, Jens Niederhut, Philipp Springer:
Verschluss-Sachen. Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit
Gegen eine Schutzgebühr von 5 Euro über bstu.de zu beziehen oder als kostenloser Download.
192 Seiten mit diversen Abbildungen
ISBN 978-3-946572-40-4

Unter dem Titel „40 Dinge – Fundstücke aus 40 Jahren Stasi“ wird die Publikation durch eine Video-Serie auf dem neuen YouTube-Kanal des BStU begleitet. Die erste Folge zu „Hetzbuchstaben“ ist online.

 

Natur- und Vogelschutzverein übergab dem Stadtarchiv Borken fünf Chronik-Bände

Umweltschutz im Wandel der Zeit

Vom einstigen „Kanarienzucht- und Vogelschutzverein“ hin zu einem Bewahrer und Mahner in vielen Fragen des Umweltschutzes – diese spannende Entwicklung dokumentieren fünf Chronik-Bände, die der Natur- und Vogelschutzverein Kreis Borken e.V. dem Stadtarchiv Borken als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt hat. Sie dokumentieren die Vereinsgeschichte von 1931 bis 2002 mit einer Unterbrechung von 1936 bis Anfang 1956, da der Verein in der Zeit des Nationalsozialismus in den Reichsbund Deutscher Kanarienzüchter e.V. eingegliedert und erst mit Verzögerung neu gegründet wurde.

„Wir sind sehr stolz, diese Chroniken heute noch zu besitzen“, sagte Jochen Teroerde, seit Februar 2011 Vorsitzender des rund 450 Mitglieder zählenden Vereins. Bereits zum 40. Vereinsjubiläum 1971 erstellte der ehemalige Konrektor Erich Vielhauer die ersten Seiten der Chroniken, ab den 1980er Jahren führte Heinz Petersohn diese fort. Sie liefern ein vielfältiges Bild des Vereinslebens mit Tätigkeits- und Versammlungsberichten sowie Artikeln aus der Lokalpresse und aus Fachmagazinen. Aufschlussreich sind auch die zahlreichen Fotos, die wichtige Aktivitäten des Vereins illustrieren – von der Teilnahme an der Aktion „Saubere Landschaft“ über regelmäßige Arbeitseinsätze an der Nordsee bis hin zur vereinsinternen Karnevalsfeier.

Nach Vorgesprächen mit Stadtarchivleiter Dr. Fasse, der die Chroniken als stadtgeschichtlich bedeutsame Quellen einstufte, erfolgte kürzlich die Übergabe der fünf Chronik-Bände. „Bisher verwahren wir nur wenige Dokumente über Vereinsaktivitäten im Stadtgebiet“, berichtete dabei Diplom-Archivar Thomas Hacker. Doch das Stadtarchiv sieht sich nicht nur als „Gedächtnis“ der Stadtverwaltung, sondern sucht das städtische Leben insgesamt zu dokumentieren. Und dass der Natur- und Vogelschutzverein in den vergangenen Jahrzehnten über Borken hinaus für einen nachhaltigen Umweltschutz eingetreten ist, macht diesen neuen Bestand sehr interessant.

Der Verein selbst sieht seine Chroniken im Stadtarchiv gut verwahrt. Wie alle anderen im Diebesturm verwahrten Bestände zur Geschichte der Stadt sowie der ehemaligen Ämter Gemen-Weseke sowie Marbeck-Raesfeld können sie jederzeit während der Öffnungszeiten (jeweils montags bis donnerstags von 9 bis 12 Uhr) im Diebesturm eingesehen werden.

Kontakt:
Stadtarchiv Borken
Im Piepershagen 17
46325 Borken
Telefon: + 49 2861 939 249
stadtarchiv@borken.de

Gymnasien und Kreisarchiv Warendorf unterzeichnen Partnerschaft

Lokale Geschichte wird für Schüler erlebbar

Um ihre bereits bestehende Zusammenarbeit zu vertiefen und in eine feste Form zu bringen, haben das Kreisarchiv Warendorf und das Gymnasium St. Michael (Ahlen), das Augustin-Wibbelt-Gymnasium, das Mariengymnasium und das Gymnasium Laurentianum (alle Warendorf) eine Bildungspartnerschaft unterzeichnet. Diese wird von „Bildungspartner NRW“, einer Einrichtung im Auftrag des NRW-Schulministeriums, unterstützt. Sie fördert die systematische Kooperation von Schulen und kommunalen Bildungs- und Kultureinrichtungen.

Neben Vertretern der beteiligten Schulen, der Kreisverwaltung und des LWL-Archivamtes in Münster war bei der Vertragsunterzeichnung mit Christiane Bröckling auch die Geschäftsführerin von Bildungspartner NRW in Düsseldorf anwesend. Sie stellte die vielen Facetten des Programms vor und wünschte der Kooperation ebenso wie  Dr. Stefan Funke, zuständiger Dezernent des Kreises Warendorf, für die Zukunft viel Erfolg. „Durch die Zusammenarbeit mit den Schulen öffnet sich das Archiv einer noch breiteren Öffentlichkeit und stimmt seine Angebote auf die Bedürfnisse der Schulen ab“, sagte Dr. Funke.

Abb.: Unterzeichneten die Bildungspartnerschaft, vorne v.l.: Dr. Stefan Funke, Dr. Olaf Goeke (Augustin-Wibbelt-Gymnasium), Uta Schmitz-Molkewehrum (Mariengymnasium), Rolf Hartmann (Laurentianum), Johannes Epke (Gymnasium St. Michael); stehend v.l.: Dr. Linus Tepe (Kreis Warendorf), Dr. Knut Langewand, Thomas Schönherr, Stefanie Wittlage (beide Augustin-Wibbelt-Gymnasium), Dr. Gunnar Teske (LWL-Archivamt Münster), Cordula Mense-Frerich (Mariengymnasium), Dr. Peter Worm (LWL-Archivamt), Christiane Bröckling (Bildungspartner NRW), Ronald Fernkorn, Victoria Wegener und Mareike Beer (alle Kreis Warendorf). (Foto: Kreis Warendorf)

Ein wichtiger Baustein der Bildungspartnerschaften sind die themenbezogenen Archivhefte für den Unterricht, an denen die vier Gymnasien derzeit gemeinsam mit dem Kreisarchiv arbeiten. Wie Kreisarchivar Dr. Knut Langewand berichtete, sollen junge Menschen auf diese Weise an historische Quellen aus unserem Kreis herangeführt werden: „Was in Schulbüchern oft nur als abstrakte Geschichte erscheint, wird durch Archivalien aus der eigenen Region veranschaulicht und erlebbar gemacht.“

Kontakt:
Kreisarchiv Warendorf
Waldenburger Straße 2
48231 Warendorf
Telefon: 02581/53-1040
Fax: 02581/53-1041
kreisarchiv@kreis-warendorf.de

Quelle: Kreis Warendorf, Pressemitteilung, 12.8.2017

Aus der neuen Dürrner Ortschronik (2)

Die neue Ortschronik „Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg“ zeichnet die ungewöhnliche Geschichte der Gemeinde im Enzkreis in Baden-Württemberg nach. Der Verfasser der Ortschronik, Konstantin Huber, ist Leiter des Kreisarchivs des Enzkreises in Pforzheim. Mit drei einzelnen Folgen sollen Einblicke in die neue Dürrner Ortschronik gegeben werden.

Folge 2: Der Dürrner Charakter

Im Jahr 1851 attestierte der Pforzheimer Bezirksvorstand Ludwig Wilhelm Fecht den Dürrner Einwohnern, sie seien im Allgemeinen „sparsam und fleißig, altem Herkommen in Tracht und Sitten zugethan und zwar mehr, denn in vielen andern Orten“. Hier scheint die Lage des Dorfes – etwas abseits und in gewisser Entfernung zur Stadt – bereits durch. Deutlich negativer äußerte sich Fechts Nachfolger Otto von Scheerer 1876: „Die Lage der Gemeinde Dürrn, welche von dem größeren Verkehr abgeschlossen, hauptsächlich nur mit einigen Nachbargemeinden in Verbindung steht, mag wohl zum Wesentlichsten dazu beitragen, daß hier der […] sehr beschränkte conservative Sinn der Landbewohner ganz besonders sich ausprägt.“ Und Oberamtmann Siegel bemerkte 1878 gar: „Als Hauptgrund der wenig günstigen wirthschaftlichen Lage des Ortes wurde mir von zuverlässiger Seite angegeben, daß die Bewohner wenig fleißig sind, daß sie insbesondere zur Sommerszeit erst um 7 Uhr morgens auf das Feld gehen.“ Damit galt man damals als Langschläfer! Dürrns Pfarrer Stober attestierte der Bevölkerung 1907 diplomatisch einen „vorzugsweise ländlichen Charakter mit allen Licht- und Schattenseiten“. Er führte immerhin aus, dass das ganze Jahr über „von früh bis spät viel gearbeitet“ werde „und auch unter den auswärts ihrem Verdienst Nachgehenden gibt es nur wenig eigentliche ‚Bummler‘“. Pfarrer Meier meinte 1917, er habe „noch in keiner Gemeinde die Leute so schwer arbeiten und Abends so spät nach Hause gehen sehen wie hier“. Er schränkte aber ein: „Dem Arbeitsfleiß steht allerdings ein gewisses Genußleben in Essen und Trinken gegenüber, das es im Krieg nicht oder nur schwer fertig bringt, auf alte Gewohnheiten zu verzichten oder behördliche Mahnungen zu verstehen“. Dennoch war das Dorfleben im Vergleich zu heute von härtester körperlicher Arbeit, Zähigkeit, enormem Fleiß und größter Sparsamkeit geprägt. Alle, auch Frauen und Kinder, mussten hart arbeiten; letztere verfügten kaum über Spielzeug, hatten dafür aber das ganze Dorf als Spielplatz.

Abb.: Der Brunnen im Oberdorf mit Darstellung der traditionellen Dürrner Berufe Landwirt und Goldarbeiter sowie der „Dodebritscher“-Geschichte (2016).

Brot, Kartoffeln und Milch

Pfarrer Zachmann berichtete 1902: „Die Nahrung ist einfach und bei manchen, die es können, auch kräftig; viel Mehlspeisen, oft nur sonntags Fleisch. Die nahrhafte Speise des Bauern ist und bleibt sein Bauernbrot.“ Kritisch aber fügte er hinzu: „Eine auffallend große ‚Kuchenbackerei‘ hat in den letzten Jahrzehnten Platz gegriffen.“ Und der 1915 geborene Karl Schäfer erzählte: „Zum Abendessen gab es bei uns meist Suppe mit Brot, Milch und Kartoffeln. Zum Frühstück gab es jedoch Kaffee und Milch.“ Echten Bohnenkaffee trank man vor allem sonntags – sonst gab es aus Getreide oder Zichorie hergestellte Kaffee-Ersatzgetränke wie „Muckefuck“. Eugen Theilmann wiederum berichtete aus seiner Jugend um 1930/40: „Morgens gab es selbst hergestellten ‚Kaffee‘ und Weißbrotschnitten, zu Mittag ein einfaches, schnell zubereitetes oder auf dem Herd vorbereitetes Essen wie Eintopf und zum Abendessen Brotsuppe, Milch bzw. Sauermilch und Kartoffeln. Während der Erntezeit blieb man mittags auf dem Feld und nahm einen Vesperkorb mit. Fleisch gab es vor allem dann, wenn man geschlachtet hatte, was die meisten landwirtschaftlichen Familien taten. Sonst gab es wenig Fleisch, vor allem in geräucherter Form.“ Zu den besonderen Genüssen zählte Schmalzbrot. Die große Sparsamkeit führte dazu, dass man nichts verderben ließ. An schimmelig gewordenen Lebensmitteln entfernte man lediglich den Schimmel und aß sie trotzdem. Und was nicht frisch verzehrt wurde, lagerte man als Vorrat: Man kochte es ein, räucherte oder dörrte es.

„Dodebritscher und Dieldappen“: Die Dürrner Necknamen

Früher nahm man viel stärker als heute Anteil am Leben und Geschehen der Nachbargemeinden. Ein Ausdruck dieser engen Verbindung waren die heute kaum mehr gebräuchlichen und oft wenig schmeichelhaften Spitznamen, die man den Bewohnern der Nachbarorte gab. Die meisten entstanden im 18./19. Jahrhundert, und manche sind heute nur noch schwer deutbar.

Für die Dürrner Bevölkerung sind gleich zwei solcher Spitz- oder Necknamen überliefert. Der erste lautet „Dodebritscher“ und entstand angeblich wie folgt: Ein Dürrner Fuhrmann sollte einen verstorbenen Einwohner über den holprigen Kirchweg zu dem damals auch für Dürrn zuständigen Friedhof in Kieselbronn karren. Sarg und Wagen mussten manchen harten Stoß hinnehmen und es hörte sich an, als ob der Tote von innen gegen den Sargdeckel klopfe. Erschreckt „pritschte“ der Fuhrmann mit der Peitsche auf den Sarg – denn „dod isch dod!“ Im Galopp fuhr er nach Kieselbronn und berichtete Pfarrer und Totengräber von seinem Erlebnis. Seither haben die Dürrner ihren Necknamen weg. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass speziell in Dürrn bis um 1850 folgender Brauch galt, von dem Pfarrer Zachmann im Jahr 1902 in seiner Chronik berichtete: „Eine eigentümliche Sitte bei Begräbnissen war bis in die Mitte vorigen Jahrhunderts das nochmalige Öffnen des Sarges auf dem Friedhof unmittelbar vor der Einsenkung ins Grab. Es geschah wohl, um den Angehörigen noch einmal die Verstorbenen zu zeigen, dann vielleicht auch aus Gründen der Vorsicht, Scheintod betreffend. Doch scheint diese an sich nicht gerade anfechtbare Gewohnheit mancherlei Unsitten im Gefolge gehabt zu haben, denn mehrmals begegnet man in Visitationsbescheiden dem ernsten Tadel, es solle darauf geachtet werden, dass bei Öffnung des Sarges auf dem Friedhof die Weiber die Verstorbenen im Sarg nicht schütteln und empor zerren.“ Noch im 20. Jahrhundert soll eine Dürrner Frau verfügt haben, man solle ihr nach ihrem Tod die Pulsadern öffnen, damit sie nicht scheintot beerdigt werden könne.

Die Dürrner Einwohner werden aber auch „Dieldappen“ (bzw. Dilldabbe“) genannt. Sie sollen einst ihren Kleesamen, statt ihn einzuwalzen, mit Dielen (wuchtigen Brettern) belegt haben und darauf herumgetappt sein. Nach Pfarrer Zachmann „geht das Wort allem Anschein nach (die Dürrner reden natürlich nicht gern darüber) auf eine gewisse Langsamkeit und Umständlichkeit in Dingen zurück, die eilig und pressant zu erledigen wären. Eine weniger tölpelhafte Erklärung ist die, dass die Wege schlecht und dreckig waren und deshalb die Dürrner Dielen darüber gelegt hätten. Mitunter wird das auch in Verbindung gebracht mit dem Ursprung des anderen Necknamens „Dodebritscher“. Denn der Weg nach Kieselbronn war bei Regen- und Tauwetter verschlammt, so dass der Gang zur Kirche nur über zuvor ausgelegte Dielen möglich gewesen sein soll; auch bei den Leichentransporten sei so mancher „Diel-Tapp“ mit dem Sarg abgeglitten.

Der Begriff „Dilldapp“ ist ein vor allem in Hessen und Oberfranken verbreitete Bezeichnung für eine trottelige Person. Er erscheint auch in Märchen und Erzählungen als Fabelwesen und in der schwäbisch-alemannischen Fasnet; es gibt sogar eine Comicfigur, die im Siegerland Kultstatus besitzt. Die Wortherkunft ist ungeklärt, der Begriff ist aber bereits für das 15. Jahrhundert überliefert. Möglicherweise kam er über einen Zuwanderer nach Dürrn.

Damit die Necknamen nicht ganz in Vergessenheit geraten, werden sie heutzutage erfreulicherweise auf verschiedene Art festgehalten: So ließ die Gemeinde Ölbronn-Dürrn im Jahr 1990 einen Brunnen im Oberdorf durch den Bildhauer Karlheinz Zöhner aus Mühlacker mit der „Dodebritscher“-Geschichte ausgestalten. Und im Jahr 2010 gab sich die Laienspielgruppe des Gesangvereins Eintracht Dürrn den Namen „Dürrner Dieldappen“ – ein besonders passender Name, weil das Theaterspiel auf Bühnenbrettern (Dielen) stattfindet.

Konstantin Huber

Siehe auch:
Folge 1: Die Dürrner Schnapstrinker – oder: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung“
Folge 3: Aus „Flüchtlingen“ werden Neubürger: Die Integration der Heimatvertriebenen

Info:
Konstantin Huber:
Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg.
Mit Beiträgen von Christoph Florian und Martin Schickle
Ostfildern und Pforzheim 2017
520 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-7995-0692-2

Unterlagen von Kirchenmusikdirektor Gotthard Gerber im Stadtarchiv Iserlohn

Kirchenmusikdirektor Gotthard Gerber übergab vor einiger Zeit dem Stadtarchiv Iserlohn persönliche Unterlagen aus seiner kirchenmusikalischen Tätigkeit. Im Stadtarchiv wurde der Bestand nun erschlossen und archivgerecht verpackt. Stadtarchivar Rico Quaschny konnte Gotthard Gerber im Stadtarchiv das Findbuch zum Bestand überreichen. „Der Bestand dokumentiert über drei Jahrzehnte kirchenmusikalisches Leben in Iserlohn, das Gotthard Gerber maßgeblich geprägt hat, und ist eine besondere Bereicherung unserer Bestände“, freut sich Stadtarchivar Quaschny.

Abb.: Gotthard Gerber (rechts) und Stadtarchivar Rico Quaschny im Magazin des Stadtarchivs (Foto: Stadtarchiv Iserlohn).

Gotthard Gerber, geboren 1937 in Thüringen, war nach dem Studium an der Hochschule für Musik in Frankfurt am Main von 1961 bis 1971 zunächst Kantor und Organist in Plön. 1971 wechselte er nach Iserlohn, wo er bis 2001 Kirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirchengemeinde Iserlohn war. Zugleich war er Leiter der Evangelischen Kantorei Iserlohn. Er begründete die Konzertreihe der Kantorei, die Internationalen Orgeltage Iserlohn sowie die „tage neuer musik iserlohn“. Zwanzig Jahre erfüllte Gerber einen Lehrauftrag an der Hochschule für Musik in Köln in den Fächern Liturgisches Orgelspiel, Partitur- und Generalbassspiel, Liturgik und Hymnologie. 1978 wurde ihm der Titel Kirchenmusikdirektor verliehen, im Jahr 1999 der Verdienstorden des Landes NRW. Gotthard Gerber setzte sich für die Restaurierung der historischen Schulze-Orgel in der Reformierten Kirche Iserlohn sowie den Neubau einer Orgel für die Bauernkirche in Iserlohn ein.

Seit den 1960er Jahren gab er zahlreiche Orgelkonzerte in vielen Städten Deutschlands aber auch im Ausland, so in England, Dänemark, Holland, Nordwegen, Schweiz, Ungarn, USA, DDR, Polen, CSSR, Belgien, Frankreich, Finnland, Schweden, Spanien, Lettland, Russland und Italien. Seit dem Eintritt in den Ruhestand ist Gotthard Gerber freischaffender Kirchenmusiker. Er produzierte mehrfach Funkaufnahmen beim WDR und NDR und gab Musikseminare bei der Volkshochschule.

Der Bestand enthält vor allem Schriftwechsel, Programme und Presseartikel zu den zahlreichen Konzertveranstaltungen von Gotthard Gerber, Materialien zu Bau, Unterhaltung und Restaurierung von Orgeln in Iserlohn sowie einige Unterlagen zur beruflichen Tätigkeit sowie zur Mitarbeit in Ausschüssen, Kommissionen und als Dozent. Außerdem sind im Bestand ältere Notenbücher enthalten, die Besitzervermerke oder handschriftliche Eintragungen von Musikdirektor Franz Hanemann aus Iserlohn, dem Iserlohner Komponisten Horst Bucksfeldt oder von Gotthard Gerber aufweisen.

Der Bestand umfasst 137 Nummern in 22 Archivkartons sowie großformatige Plakate, Schallplatten und CDs und ist nach Absprache mit Gotthard Gerber einsehbar.

Das Stadtarchiv Iserlohn ist immer an Unterlagen aus Privatbesitz interessiert. „Nur durch persönliche Unterlagen, Vereins- und Firmenarchive, Fotografien und andere Zeitzeugnisse kann in Verbindung mit dem amtlichen Schriftgut eine lebendige Stadtgeschichte dokumentiert werden“, so Stadtarchivar Rico Quaschny.

Kontakt:
Stadtarchiv Iserlohn in der „Alten Post“
Theodor-Heuss-Ring 5
58636 Iserlohn
Tel.: 02371 / 217-1921
Fax: 02371 / 217-2982
archiv@iserlohn.de

Quelle: Stadt Iserlohn, Pressemitteilung, 9.8.2017

Diefenbacher Gemeinderechnung von 1780/81 erstrahlt in neuem Glanz

Kreisarchiv des Enzkreises vermittelt Gemeinde Sternenfels Restaurierung des beschädigten Bandes

„Fast wie neu“ – das ist der erste Eindruck vom historischen Rechnungsband aus dem Gemeindearchiv Diefenbach, den der Leiter des Kreisarchiv des Enzkreises, Konstantin Huber, dem Sternenfelser Bürgermeister Werner Weber nach erfolgter Restaurierung zurückgab.

Abb.: Freuen sich über eine gelungene Restaurierung: Kreisarchivleiter Konstantin Huber (rechts) übergibt den Rechnungsband dem Sternenfelser Bürgermeister Werner Weber (Foto: Enzkreis).

Die historische Archivalie trägt den barock-ausführlichen Titel „Dieffenbach Burgermeister Rechnung, Mein, Johannes Schauflers, des Raths, als dermalig verordneten Amts-Burgermeisters dahier, besagend was ich Gemeinen Flekens wegen Eingenommen und dargegen wiederum Außgegeben habe, Von Georgii 1780 biss dahin 1781“. Sie enthält demnach alle Einnahmen und Ausgaben der Gemeinde vom Tag des Heiligen Georg (23. April) 1780 bis ins Folgejahr. Bürgermeister Werner Weber staunte nicht wenig, dass dies alles auf 176 Blatt Platz hatte.

Der Band stand einst vermutlich im Dachgeschoss des Diefenbacher Rathauses. Zwischen den Ziegeln hindurch war daher mit ziemlicher Sicherheit Regenwasser durch das Dach und in den Band eingedrungen. Schimmelbefall war die Folge, wodurch teilweise das historische Papier zerbröselte. Ein kleiner Teil der Schrift war nicht mehr zu retten.

Den Rest restaurierte Buchbindemeisterin und Restauratorin Caroline Gerken aus Freiburg, mit dem das Kreisarchiv seit vielen Jahren erfolgreich zusammenarbeitet. Es gelang ihr, das schöne Einbandpapier zu lösen und im Original wieder auf die neu gefertigten Buchdeckel aufzuziehen. Denn ein Grundsatz jeder fachgerechten Papierrestauration ist es, nur die absolut unbrauchbaren Teile zu ersetzen, alles noch Verwendbare und damit den Originalcharakter aber möglichst zu erhalten.

Und Caroline Gerken darf sich freuen: Bürgermeister Werner Weber gab grünes Licht für die Restaurierung weiterer beschädigter Bände aus den Archiven beider Ortsteile, um das „Gedächtnis“ der Gemeinde zu sichern und auf Dauer zu erhalten.

Kontakt:
Kreisarchiv und Kultur, Enzkreis
Zähringerallee 3
75177 Pforzheim
Tel.: 07231 308-9423
Fax: 07231 308-9837
Kreisarchiv@enzkreis.de

Quelle: Enzkreis, Pressemitteilung 203/2017, 14.8.2017

 

Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera 3/2017

Unter dem Titel „Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera“ informiert das Stadtarchiv Gera vierteljährlich über aktuelle Herausforderungen und historische Themen rund um eigene Arbeit. „Dabei sollen einerseits unter wechselnden Rubriken die Bestände des Stadtarchivs vorgestellt und Einblicke in die Archivarbeit gewährt werden. Anderseits sollen historische Ereignisse und deren Akteure mit ihren Auswirkungen auf die Stadt- und eventuell sogar auf die Landes- und Weltgeschichte in Erinnerung gerufen werden“, formuliert Archivleiterin Christel Gäbler im Vorwort der ersten Ausgabe. Ziel sei es, auf spannende Forschungsthemen aufmerksam zu machen und Impulse zur weiterführenden Beschäftigung mit der Stadtgeschichte zu geben.

Beiträge der Ausgabe 3/2017 der „Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera“:

  • Personen der Stadtgeschichte – Teil 2: Professor Louis Georg Braun (Architekt und Mundartdichter)
  • „Mein Traum vom Fliegen“ – Rolf Staudtes Flugsporterinnerungen
  • Theodor Hartwig: „Künstler sein heißt: anders fühlen als alle die anderen…“
  • Neueste Forschung korrigiert bisher angenommenes Baujahr des Amtsgerichtes Gera

Neben dem geschriebenen Wort zählt vor allem die Sprache zum wichtigsten Kommunikationsmedium der Menschheit. Parallel zu unserer Standardsprache und der Umgangssprache existieren in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, zahlreiche historisch gewachsene Dialekte. Als eine spezielle dialektale Ausformung ist das „Gersche“ zu nennen, also die von den Geraern gesprochene Mundart. Ein vermutlich nicht mehr allen Gerschen, wie die gleichnamigen Sprecher(innen) dieses Dialektes genannt werden, bekannter Text des Geraer Architekten Louis Georg Braun (geb. 1865) über ein botanisches Phänomen namens „Bräzelbaum“ im fürstlichen Küchengarten stellt der erste Beitrag dieser Ausgabe unseres Informationsbriefes vor.

Abb.: Rudi Seiler, Rolf Staudte und Harry Quaas als am 1. Zentralen Segelflugwettbewerb der DDR in Schönhagen teilnehmende Mannschaft des Bezirkes Gera im Jahr 1957 (Foto: Stadtarchiv Gera)

Einige Aspekte der Flugsportentwicklung in Gera und Umgebung sowie persönliche Erlebnisse einer exemplarischen Flugsportkarriere thematisiert ein Beitrag über Rolf Staudte und seine nunmehr im Stadtarchiv Gera verwahrten Niederschriften.

Ein vollkommen anderes Berufsfeld wird mit den Ausführungen über die jüngst in das Stadtarchiv Gera übernommenen Nachlassunterlagen des unter anderem an den Bühnen der Stadt Gera wirkenden Schauspielers und Schauspielleiters Theodor Hartwig (1912-1982) in den Blick genommen; reflektieren die überlieferten Dokumente doch nicht nur das persönliche Empfinden des Zeitgeschehens, sondern sie illustrieren gleichsam auch Facetten der Geraer Theatergeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Der vierte Artikel zeigt schließlich anhand des Baujahres des Geraer Amtsgerichtsgebäudes exemplarisch, wie kompliziert und rechercheaufwändig manchmal der Weg zur korrekten Information über einen bestimmten Sachverhalt sein kann. Oftmals erweist sich zu diesem Zweck der Besuch mehrerer Archiveinrichtungen und der durchaus zeitintensive Abgleich des dort vorgefundenen Aktenmaterials als unerlässlich.

Link: Nachrichten aus dem Stadtarchiv Gera 3/2017

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Aus der neuen Dürrner Ortschronik

Das Dorf Dürrn ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Ölbronn-Dürrn im Enzkreis in Baden-Württemberg. Dürrn weist eine ungewöhnliche Geschichte auf. Es war bis weit in die Neuzeit als „Kondominatsort“ unter vier Ortsherren geteilt. Seine Geschichte beginnt jedoch schon sehr viel früher, in der Jungsteinzeit. – Welche Spuren hinterließen Kelten und Römer auf Dürrner Gemarkung? Wie alt ist das Straßendorf? Wie lebten die Dürrner als „Diener vieler Herren“? Und wie entwickelte sich der Ort unter badischer Oberhoheit seit 1730? Wie veränderte die Industrialisierung das Leben der Menschen und verwandelte Dürrn zu einem Goldschmiedsbauerndorf? Was geschah in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus? Welche Veränderungen brachte die Nachkriegszeit, die Dürrn zu der Gemeinde machten, die sich 1974 mit Ölbronn zusammenschloss?

Dies sind einige der Fragen, denen die im Sommer 2017 erschienene umfangreiche Ortsgeschichte nachgeht, die nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen, zumeist farbigen Bilder zum Blättern und Vertiefen einlädt. Der Autor Konstantin Huber ist Leiter des Kreisarchivs des Enzkreises in Pforzheim. Mit drei einzelnen Folgen sollen Einblicke in die neue Dürrner Ortschronik gegeben werden.

Folge 1: Die Dürrner Schnapstrinker – oder: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung“

Entsprechend der großen Bedeutung des Obstbaus spielte die Branntwein- oder Schnapsherstellung in Baden eine große Rolle. Die Gemeinde Dürrn teilte im Jahr 1807 dem Oberamt Pforzheim mit, dass „von jeher“ jeder, der es wollte, Branntwein ausschenken durfte. Die Ortsvorgesetzten versicherten, darauf zu achten, dass „zum Nachtheil der Gesundheit ihrer Mitbürger kein Misbrauch gemacht werde“. Dass der Einfluss der Dorfoberen hierauf freilich relativ gering war, verdeutlichen indes einzelne Notizen, so wie folgende im Ortsbereisungsprotokoll vom Jahr 1853: „David Biebelheimer hat sich dem Branntweintrunk ergeben und macht in trunkenem Zustand Scandal aller Art“. Und Gottlieb Schäfer „ergab sich in den 60er Jahren dem Trunk, so daß er öfters allerlei Gethier u[nd] Menschen sah (Visionen)“.

Abb.: Erste Seite des Berichtes von Pfarrer Schmitthenner an das Oberamt Pforzheim über „den Branntweinkonsum in der Gemeinde Dürrn“ (1880).

Der Selbstmord des alkoholkranken Philipp Barth (1879) führte zu einer größeren Untersuchung durch das Bezirksamt. Diese ließ die Dürrner Einwohnerschaft insgesamt in keinem besonders guten Licht erscheinen. So berichtete der Oberamtmann 1880, die Gemeinde stehe im Ruf eines hohen Branntweinkonsums. Zur Klärung des Phänomens verfasste Pfarrer Schmitthenner eine 14 Seiten umfassende Denkschrift, die einigen Einblick in das Dürrner Alltagsleben gibt. Er war nämlich nicht in erster Linie bemüht, die aus seiner Sicht gottlosen und lasterhaften Glieder seiner Gemeinde einfach mit erhobenem Zeigefinger an den Pranger zu stellen; so anonymisierte er ihre Namen, wobei die gewählten Großbuchstaben der Reihenfolge seiner Schilderung (von A bis U) entsprangen und keine Abkürzungen der Familiennamen darstellen. Der Pfarrer suchte vielmehr nach Ursachen für den Alkoholismus und gab seine Meinung zur Eindämmung des Problems kund, wenngleich sein Blick dabei auf eine strikte Begrenzung der Bezugsquellen beschränkt blieb.

Schmitthenner begann seinen Bericht mit den Worten: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung. Man kann ihm eine Geschichte schreiben und zwar einen Nekrolog vorerst.“ Zunächst schilderte der Pfarrer daher die körperliche Leidensgeschichte von elf dem Trunk ergebenen Personen, die in den Jahren 1873–80 im Alter zwischen 39 und 76 Jahren verstorben waren. In acht dieser Fälle maß Schmitthenner dem Alkoholismus eindeutig lebensverkürzende Wirkung bei. Es handelte sich fast ausschließlich um Männer, die teilweise durchaus vermögend gewesen waren und ihre Mittel vertranken, wie der eigentlich fleißige Bauer E, der als lediger Mann „in sexueller Ausschweifung“ lebte, dann „ein übel erzogenes unordentliches Weib“ heiratete. Der „Verdruß brachte ihn an das Weintrinken und von da kam er an den Schnapps“. Schmitthenner schrieb übrigens Schnapps bewusst immer in dieser Form, da er das Wort von „schnappen, d.h. kurze schnelle Züge nehmen“, ableitete! Der fromme N, der sogar Vorstand einer christlichen Gemeinschaft war, „hatte seine Natur verderbt durch die Gewohnheit, bei kleineren Anfällen von Leibweh oder Kolik Liqueur und feineren Branntwein zu trinken – in kleinen Quantitäten. […] Er hat keinesfalls einer Trunksucht nachgehangen. Aber wie sein schwacher Unterleib durch diese verkehrte Arznei stets irritirter ward und er endlich täglich sein Gläschen trank, so unterlag er der stets stärker auftretenden Kolik oder Ruhranfällen, die sich zu einer Unterleibsentzündung steigerten.“ Der Geistliche schreckte zur Verdeutlichung seiner Worte nicht vor grausigen Schilderungen zurück, wie bei dem „regelmäßigen Schnappstrinker“ M, dessen „Leichnam, obwohl er nicht wassersüchtig war, furchtbar schnell schwoll, so daß er im Sarg kaum Platz fand und schrecklich roch. Der Verwesungsprozeß war durch die blutzersetzende Wirkung des Branntweins förmlich vorbereitet und äußerst beschleunigt“.

Nach seinem einleitenden „Nekrolog“ berichtete Schmitthenner auch von der „lebenden Geschichte“ des Branntweins in Dürrn, d.h. von acht weiteren Personen, davon wieder sechs Männern, die derzeit dem Trunk ergeben seien. „Das entsetzlichste Beispiel“ sei die Ehefrau S. Vom Wein kam sie allmählich „zum Schnapps, und ist nach vielen entsetzlichen häuslichen und öffentlichen Scenen so weit gekommen, daß sie […] nach Dingen verlangt, welche ‚kratzen‘, d.h. den Gaumen in dieser kolossalen Weise kitzeln oder reizen. Sie […] gieng schon mit Lügen und Stehlen und Betteln um, nur um Mittel zu bekommen zur Befriedigung ihrer Schnapps-Gelüste“. Die Schilderung ihres Falles beendete der Dürrner Ortspfarrer mit den pathetischen Worten: „Sie ist zunächst verloren für jeden edleren Zweck des menschlichen Daseins, von dem ewigen Ziel des menschlichen Lebens gar nicht zu reden.“

Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der hohen Anzahl der geschilderten negativen Beispiele sei, so Pfarrer Schmitthenner, die öffentliche Meinung in Dürrn abgestumpft. Da zudem eine Person „von bedeutender öffentlicher Stellung auf dem kirchlichen Gebiet“ trinke, gelte der Schnapsgenuss keinesfalls als verwerflich. Auch die Jugend sah Schmitthenner in Gefahr. So berichtete er unter der Überschrift „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“ davon, dass im letzten Winter der größere Teil der Konfirmanden „um das Geld, das ihnen die Eltern gegeben, um dem Pfarrer und dem Hauptlehrer das übliche Weihnachtsgeschenk zu machen, ¼ Liter Liquoer […] kauften und […] vertranken“.

Der Pfarrer empfahl eine möglichst scharfe polizeiliche Überwachung und Beschränkung der Schankgenehmigung auf die Wirtschaften, damit sprichwörtlich den „Branntweinkonsumenten nicht der Brodkorb, sondern die Schnappsflasche höher gehängt“ werde. In den Wirtshäusern sei noch eher eine sittliche Kontrolle möglich als in den „Kramläden“. Außerdem sei „nach alter Erfahrung eine Wirthshaussauferei nie so schlimm […] als der in der Studentensprache sogenannte stille Suff“.

Im Jahr 1891 hieß es, auf dem Karlshäuserhof sei 1850-60 Schnaps gebrannt worden, was die „Anleitung zum Schnapsen“ nach Dürrn gebracht habe, so wie die Göbricher das Schnapstrinken auf dem Katharinentalerhof gelernt hätten. Inzwischen aber seien, zumindest „nach Behauptung des Gemeinderaths“, die Schnapstrinker „nach und nach ausgestorben“. Ganz so war es sicher nicht, doch hielten sich die Klagen später in Grenzen.

Konstantin Huber

Siehe auch:
Folge 2: Der Dürrner Charakter
Folge 3: Aus „Flüchtlingen“ werden Neubürger: Die Integration der Heimatvertriebenen

Info:
Konstantin Huber:
Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg.
Mit Beiträgen von Christoph Florian und Martin Schickle
Ostfildern und Pforzheim 2017
520 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-7995-0692-2

 

ARCHIV-info 2017 / Heft 1

Heft 1 der im 18. Jahrgang erscheinenden Zeitschrift „ARCHIV-info“ ist jetzt erschienen. Das vom Deutschen Museum in München herausgegebene Mitteilungsblatt informiert u.a. über digitale Strategien des Archivs des Deutschen Museums.

Mittlerweile bestünden vor allem Nachlässe von Wissenschaftlern, Erfindern und Ingenieuren in zunehmendem Maße aus „born-digital“ Unterlagen, wie Textdateien, E-Mail-Ablagen, Statistik- und Forschungsdaten, digitale Fotografien oder Planunterlagen.

„Im Wesentlichen zielt die Digitalisierungsstrategie des Archivs darauf ab, alle Findbücher zu unseren Beständen sowie einen beträchtlichen Anteil der urheberrechtsfreien Archivalien gemeinsam mit den Beständen der Objektsammlungen und der Bibliothek über das ‚Deutsche Museum Digital‚ zur Verfügung zu stellen. Von dieser Basis aus sollen auch nationale und internationale Portale bedient werden. Daneben wollen wir aber auch künftig weiterhin Drittmittel geförderte Digitalisierungsprojekte in Kooperation mit anderen Partnern – gegebenenfalls auf eigenen Plattformen – umsetzen.“

Inhalt ARCHIV-info 1 /2017:

Wilhelm Füßl/Matthias Röschner: Editorial

Wilhelm Füßl: Archivbestände im Deutschen Museum, Thema: Quellen zur Polarforschung

Neuerwerbungen

Wilhelm Füßl: Nachlass Heinrich Hardensett

Wilhelm Füßl: Sammlung Koshofer zur Farbfotografie

Projekte

Wilhelm Füßl: Dioramenkatalog

Matthias Röschner: Findbuch Nachlass Kekulé von Stradonitz

Wilhelm Füßl: Porträtgemälde erschlossen

Matthias Röschner: Evaluierung 2017

Kurz berichtet

Wilhelm Füßl: Tagung der Bildarchive in München

Wilhelm Füßl: Hermann Mäling †

Impressum:
ARCHIV-info
Herausgegeben vom Deutschen Museum.
Redaktion: Dr. Wilhelm Füßl, Dr. Matthias Röschner M.A.
Anschrift:
Deutsches Museum, Archiv
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Tel. 089 / 2179-220
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