Aus der neuen Dürrner Ortschronik (2)

Die neue Ortschronik „Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg“ zeichnet die ungewöhnliche Geschichte der Gemeinde im Enzkreis in Baden-Württemberg nach. Der Verfasser der Ortschronik, Konstantin Huber, ist Leiter des Kreisarchivs des Enzkreises in Pforzheim. Mit drei einzelnen Folgen sollen Einblicke in die neue Dürrner Ortschronik gegeben werden.

Folge 2: Der Dürrner Charakter

Im Jahr 1851 attestierte der Pforzheimer Bezirksvorstand Ludwig Wilhelm Fecht den Dürrner Einwohnern, sie seien im Allgemeinen „sparsam und fleißig, altem Herkommen in Tracht und Sitten zugethan und zwar mehr, denn in vielen andern Orten“. Hier scheint die Lage des Dorfes – etwas abseits und in gewisser Entfernung zur Stadt – bereits durch. Deutlich negativer äußerte sich Fechts Nachfolger Otto von Scheerer 1876: „Die Lage der Gemeinde Dürrn, welche von dem größeren Verkehr abgeschlossen, hauptsächlich nur mit einigen Nachbargemeinden in Verbindung steht, mag wohl zum Wesentlichsten dazu beitragen, daß hier der […] sehr beschränkte conservative Sinn der Landbewohner ganz besonders sich ausprägt.“ Und Oberamtmann Siegel bemerkte 1878 gar: „Als Hauptgrund der wenig günstigen wirthschaftlichen Lage des Ortes wurde mir von zuverlässiger Seite angegeben, daß die Bewohner wenig fleißig sind, daß sie insbesondere zur Sommerszeit erst um 7 Uhr morgens auf das Feld gehen.“ Damit galt man damals als Langschläfer! Dürrns Pfarrer Stober attestierte der Bevölkerung 1907 diplomatisch einen „vorzugsweise ländlichen Charakter mit allen Licht- und Schattenseiten“. Er führte immerhin aus, dass das ganze Jahr über „von früh bis spät viel gearbeitet“ werde „und auch unter den auswärts ihrem Verdienst Nachgehenden gibt es nur wenig eigentliche ‚Bummler‘“. Pfarrer Meier meinte 1917, er habe „noch in keiner Gemeinde die Leute so schwer arbeiten und Abends so spät nach Hause gehen sehen wie hier“. Er schränkte aber ein: „Dem Arbeitsfleiß steht allerdings ein gewisses Genußleben in Essen und Trinken gegenüber, das es im Krieg nicht oder nur schwer fertig bringt, auf alte Gewohnheiten zu verzichten oder behördliche Mahnungen zu verstehen“. Dennoch war das Dorfleben im Vergleich zu heute von härtester körperlicher Arbeit, Zähigkeit, enormem Fleiß und größter Sparsamkeit geprägt. Alle, auch Frauen und Kinder, mussten hart arbeiten; letztere verfügten kaum über Spielzeug, hatten dafür aber das ganze Dorf als Spielplatz.

Abb.: Der Brunnen im Oberdorf mit Darstellung der traditionellen Dürrner Berufe Landwirt und Goldarbeiter sowie der „Dodebritscher“-Geschichte (2016).

Brot, Kartoffeln und Milch

Pfarrer Zachmann berichtete 1902: „Die Nahrung ist einfach und bei manchen, die es können, auch kräftig; viel Mehlspeisen, oft nur sonntags Fleisch. Die nahrhafte Speise des Bauern ist und bleibt sein Bauernbrot.“ Kritisch aber fügte er hinzu: „Eine auffallend große ‚Kuchenbackerei‘ hat in den letzten Jahrzehnten Platz gegriffen.“ Und der 1915 geborene Karl Schäfer erzählte: „Zum Abendessen gab es bei uns meist Suppe mit Brot, Milch und Kartoffeln. Zum Frühstück gab es jedoch Kaffee und Milch.“ Echten Bohnenkaffee trank man vor allem sonntags – sonst gab es aus Getreide oder Zichorie hergestellte Kaffee-Ersatzgetränke wie „Muckefuck“. Eugen Theilmann wiederum berichtete aus seiner Jugend um 1930/40: „Morgens gab es selbst hergestellten ‚Kaffee‘ und Weißbrotschnitten, zu Mittag ein einfaches, schnell zubereitetes oder auf dem Herd vorbereitetes Essen wie Eintopf und zum Abendessen Brotsuppe, Milch bzw. Sauermilch und Kartoffeln. Während der Erntezeit blieb man mittags auf dem Feld und nahm einen Vesperkorb mit. Fleisch gab es vor allem dann, wenn man geschlachtet hatte, was die meisten landwirtschaftlichen Familien taten. Sonst gab es wenig Fleisch, vor allem in geräucherter Form.“ Zu den besonderen Genüssen zählte Schmalzbrot. Die große Sparsamkeit führte dazu, dass man nichts verderben ließ. An schimmelig gewordenen Lebensmitteln entfernte man lediglich den Schimmel und aß sie trotzdem. Und was nicht frisch verzehrt wurde, lagerte man als Vorrat: Man kochte es ein, räucherte oder dörrte es.

„Dodebritscher und Dieldappen“: Die Dürrner Necknamen

Früher nahm man viel stärker als heute Anteil am Leben und Geschehen der Nachbargemeinden. Ein Ausdruck dieser engen Verbindung waren die heute kaum mehr gebräuchlichen und oft wenig schmeichelhaften Spitznamen, die man den Bewohnern der Nachbarorte gab. Die meisten entstanden im 18./19. Jahrhundert, und manche sind heute nur noch schwer deutbar.

Für die Dürrner Bevölkerung sind gleich zwei solcher Spitz- oder Necknamen überliefert. Der erste lautet „Dodebritscher“ und entstand angeblich wie folgt: Ein Dürrner Fuhrmann sollte einen verstorbenen Einwohner über den holprigen Kirchweg zu dem damals auch für Dürrn zuständigen Friedhof in Kieselbronn karren. Sarg und Wagen mussten manchen harten Stoß hinnehmen und es hörte sich an, als ob der Tote von innen gegen den Sargdeckel klopfe. Erschreckt „pritschte“ der Fuhrmann mit der Peitsche auf den Sarg – denn „dod isch dod!“ Im Galopp fuhr er nach Kieselbronn und berichtete Pfarrer und Totengräber von seinem Erlebnis. Seither haben die Dürrner ihren Necknamen weg. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass speziell in Dürrn bis um 1850 folgender Brauch galt, von dem Pfarrer Zachmann im Jahr 1902 in seiner Chronik berichtete: „Eine eigentümliche Sitte bei Begräbnissen war bis in die Mitte vorigen Jahrhunderts das nochmalige Öffnen des Sarges auf dem Friedhof unmittelbar vor der Einsenkung ins Grab. Es geschah wohl, um den Angehörigen noch einmal die Verstorbenen zu zeigen, dann vielleicht auch aus Gründen der Vorsicht, Scheintod betreffend. Doch scheint diese an sich nicht gerade anfechtbare Gewohnheit mancherlei Unsitten im Gefolge gehabt zu haben, denn mehrmals begegnet man in Visitationsbescheiden dem ernsten Tadel, es solle darauf geachtet werden, dass bei Öffnung des Sarges auf dem Friedhof die Weiber die Verstorbenen im Sarg nicht schütteln und empor zerren.“ Noch im 20. Jahrhundert soll eine Dürrner Frau verfügt haben, man solle ihr nach ihrem Tod die Pulsadern öffnen, damit sie nicht scheintot beerdigt werden könne.

Die Dürrner Einwohner werden aber auch „Dieldappen“ (bzw. Dilldabbe“) genannt. Sie sollen einst ihren Kleesamen, statt ihn einzuwalzen, mit Dielen (wuchtigen Brettern) belegt haben und darauf herumgetappt sein. Nach Pfarrer Zachmann „geht das Wort allem Anschein nach (die Dürrner reden natürlich nicht gern darüber) auf eine gewisse Langsamkeit und Umständlichkeit in Dingen zurück, die eilig und pressant zu erledigen wären. Eine weniger tölpelhafte Erklärung ist die, dass die Wege schlecht und dreckig waren und deshalb die Dürrner Dielen darüber gelegt hätten. Mitunter wird das auch in Verbindung gebracht mit dem Ursprung des anderen Necknamens „Dodebritscher“. Denn der Weg nach Kieselbronn war bei Regen- und Tauwetter verschlammt, so dass der Gang zur Kirche nur über zuvor ausgelegte Dielen möglich gewesen sein soll; auch bei den Leichentransporten sei so mancher „Diel-Tapp“ mit dem Sarg abgeglitten.

Der Begriff „Dilldapp“ ist ein vor allem in Hessen und Oberfranken verbreitete Bezeichnung für eine trottelige Person. Er erscheint auch in Märchen und Erzählungen als Fabelwesen und in der schwäbisch-alemannischen Fasnet; es gibt sogar eine Comicfigur, die im Siegerland Kultstatus besitzt. Die Wortherkunft ist ungeklärt, der Begriff ist aber bereits für das 15. Jahrhundert überliefert. Möglicherweise kam er über einen Zuwanderer nach Dürrn.

Damit die Necknamen nicht ganz in Vergessenheit geraten, werden sie heutzutage erfreulicherweise auf verschiedene Art festgehalten: So ließ die Gemeinde Ölbronn-Dürrn im Jahr 1990 einen Brunnen im Oberdorf durch den Bildhauer Karlheinz Zöhner aus Mühlacker mit der „Dodebritscher“-Geschichte ausgestalten. Und im Jahr 2010 gab sich die Laienspielgruppe des Gesangvereins Eintracht Dürrn den Namen „Dürrner Dieldappen“ – ein besonders passender Name, weil das Theaterspiel auf Bühnenbrettern (Dielen) stattfindet.

Konstantin Huber

Siehe auch:
Folge 1: Die Dürrner Schnapstrinker – oder: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung“
Folge 3: Aus „Flüchtlingen“ werden Neubürger: Die Integration der Heimatvertriebenen

Info:
Konstantin Huber:
Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg.
Mit Beiträgen von Christoph Florian und Martin Schickle
Ostfildern und Pforzheim 2017
520 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-7995-0692-2

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