Urkunden kehren nach 60 Jahren ins Sächsische HSTA Dresden zurück

Zufällig stoßen im Herbst 2003 beim Entrümpeln eines unlängst übernommenen Hauses im kleinen Erzgebirgsvorort Bieberstein die neuen Besitzer auf dem Dachboden auf drei alte Kisten mit besonderem Inhalt: Siegel und Aktenstapel. Wenig später kreuzen die Leute mit dem Fund im Freiberger Bergarchiv auf. Freiberger Archivare erkennen, dass es sich um Urkunden und Akten vom sächsischen Hofe handelt. Sie benachrichtigen das Sächsische Hauptstaatsarchiv in Dresden. Dessen Spezialisten identifizierten schnell das Siegel Kaiser Karls V. (1500-1551) und Papiere des kurfürstlichen Geheimen Rates aus dem 17. Jahrhundert.

Der Fund gilt als kleine Sensation. Die Entdecker – sie erhielten eine „kleine Finderprämie“ – wollen unerkannt bleiben, sagt Guntram Martin, Leiter des Sächsischen Hauptstaatsarchivs. „Seit einem halben Jahrhundert werden diese Akten vermisst“, betont er. Es gehe um historisch einzigartige Dokumente der sächsischen Geschichte.

In der gesiegelten Urkunde mit der Archivnummer 11 005 bestätigte der römisch-deutsche Kaiser Karl V. am 27. Juli 1541 den Reichsfürstenstand der meißnischen Bischöfe. Zuvor hatte sich der Meißner Bischof Johann beim Kaiser beschwert, weil er sich vom sächsischen Kurfürsten ins politische Abseits gedrängt sah. Die wiederentdeckten Akten des Geheimen Rates behandeln vor allem Vorgänge in der Lausitz: Standesangelegenheiten, die Landesordnung in der Niederlausitz, Vermögenssteuerangelegenheiten der Stände, auch eine Strafermittlungsakte von 1607 ist dabei.

Die Dresdner Archivare können mittlerweile die Odyssee der alten Papiere einigermaßen rekapitulieren. Begonnen hat sie in den Wirren der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges. In einer Zeit, in der auch das Dresdner Staatsarchiv eines der dramatischsten Kapitel in seiner Geschichte erlebte.

Schon am 18. Oktober 1943 inspiziert der Dresdner Archivinspektor Karl Jäger erstmals den Ort Bieberstein. Er ist auf der Suche nach „Ausweich- und Auffangstellen“ für sein Archivgut. Auch Schloss Bieberstein hat er dafür ins Auge gefasst. Es „liegt frei auf einer Felszunge über der Talsohle der Bobritzsch“, notiert Jäger damals und nimmt die Zusage von Rittergutsbesitzer Görg mit. Der will dem Archiv das Blaue Zimmer, eine ehemalige Wachstube und einen dritten Raum zur Verfügung stellen. Mit vielen Besitzern und Verwaltern von Burgen, Schlössern oder Rittergütern kommt es ab 1942 zu ähnlichen Verhandlungen. Ausweichquartiere auf dem Lande sind gefragt. Die Kriegsfurcht treibt die besorgten Verwalter der Dresdner Kunst- und Kulturschätze zur Suche nach Depots in der Provinz.

Im Sommer 1944 nimmt das Dresdner Hauptstaatsarchiv das Depot im Schloss in Anspruch. 128 Pakete mit Volkszählungslisten werden nach Bieberstein gebracht, auch zehn Kisten mit wertvollen alten Urkunden. Auch Akten des Geheimen Rates sind dabei, darunter ein Schriftwechsel der Jahre 1466 bis 1471, der als „Irrungen zwischen König Georg von Böhmen und dem Papste“ überliefert ist.

Bis zum Kriegsende reist Archivinspektor Jäger immer wieder durch Sachsen, um die ausgelagerten Bestände zu kontrollieren. Auch nach dem berühmten Wittenberger Archiv schaut er. Es sind quasi die ältesten überlieferten Aktenbestände Sachsens. Sie liegen mit Schätzen des Dresdner Grünen Gewölbes in den Kasematten des Königsteins. Wenige Tage nach dem Zusammenbruch des Naziregimes kommt Nachricht von Schloss Bieberstein. Der Verwalter teilt im Juni 1945 der Dresdner Archivverwaltung mit: „400 Russen“ hätten das Schloss besetzt. Mitte Juli macht sich Archivinspektor Jäger mit einem Kollegen auf den Weg nach Bieberstein, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Sein Bericht ist erschütternd: „Schloss unbewohnt und ausgeplündert“, „Besitzer nicht anwesend“, „Akten im Keller durcheinander geworfen“, „8 Urkundenkästen fehlen offenbar“, „Abtransport vordringlich“, so schreibt er seine Beobachtungen nieder. Bei Jägers nächstem Besuch im Oktober hat die KPD vom Schloss Besitz ergriffen. Der Hausmeister erzählt, dass ganze Aktenpakete „aus dem Fenster geschmissen wurden“. Mit „größeren Verlusten“ sei zu rechnen, hält Jäger fest. Ein Teil der Dresdner Akten wird versehentlich nach Freiberg geschafft.

Anfang Dezember 1945 gehört das Schloss der SPD, und die verbliebenen Archivalien landen in einem alten Stollengang. „Bedeutend verschlechtert“ habe sich ihr Zustand, berichtet Jäger in Dresden. Im März 1946 alarmiert die Stadt Freiberg das Staatsarchiv: In der SPD-Arbeiterakademie Bieberstein würden „wertvolle Akten“ völlig unsachgemäß, verwahrlost und beschädigt lagern. Wenig später schildert Staatsarchivleiter Hellmut Kretzschmar dem Schulleiter in Bieberstein sein Dilemma. Ihm fehlen Autos und Benzin, um die ausgelagerten Bestände zurückzuholen. Im Großen und Ganzen seien die Akten „gut durch die Kriegswirren hindurchgekommen“, aber nun bestehe die Gefahr, dass „noch nachträglich schmerzliche Verluste eintreten“, schreibt er. Bis zum 30. März 1949 sollte es noch dauern, ehe Archivinspektor Jäger die letzten Akten aus Bieberstein zurück nach Dresden geholt hatte. Alle fand er nicht.

So sind die Bestände im Dresdner Staatsarchiv bis heute noch nicht wieder vollständig vorhanden. Ähnliches wie in Bieberstein erlebte Inspektor Jäger auch in Rochlitz und Schieritz bei Meißen. Das Schloss sei unbewohnt und „völlig ausgeplündert“, die Akten in „wüster Unordnung“, berichtet er am 19. Juli 1945 über Schloss Schieritz.

Fast 60 Jahre später hat Peter Wiegand, der stellvertretende Leiter des Dresdner Hauptstaatsarchivs, noch immer die stille Hoffnung: „Das kleine Wunder in Bieberstein ist vielleicht kein Einzelfall.“ So manche wertvolle Akte aus Dresden könnte auch in Schieritz und Rochlitz auf eine „Wiederentdeckung“ warten. Bis heute fehlen dem Staatsarchiv hunderte bedeutende Archivalien und historische Karten. Einige gelten als verschollen. Größtenteils ist allerdings bekannt und dokumentiert, wo sie derzeit liegen.

Auf Wiegands Schreibtisch steht ein unscheinbarer Karteikasten. Sein Inhalt: vergilbte, aber hoch brisante Ausleihscheine aus den Jahren 1945 bis 1947. Sie dokumentieren, wem die Dresdner Archivare historisch besonders wertvolle Akten in die Hand gegeben haben. Empfänger waren in allen Fällen Offiziere der damaligen sowjetischen Militäradministration (SMA). Schon wenige Tage nach Kriegsende erhalten Mitarbeiter des Archivs Anweisung, ihre Bestände nach Akten zur Geschichte Russlands, zu den deutsch-russischen Beziehungen und zur Entwicklung der Arbeiterbewegung zu durchsuchen. So muss Archivinspektor Jäger am 25. Mai 1947 die Ermittlungsakte des Leipziger Amtsgerichts gegen August Bebel wegen „staatsgefährlicher Schmähung“ bei der Archivabteilung der SMA abliefern. Auch andere Prozessakten landen dort, so die gegen Wilhelm Liebknecht oder Richard Wagner, Gottfried Semper und Michail Bakunin wegen deren Teilnahme am Dresdner Maiaufstand 1849.

Meist handschriftlich, aber bürokratisch exakt füllen die Dresdner Archivare bis 1950 für jede abgegebene Akte einen Leihschein aus – insgesamt kommen etwa 1 500 Einzelquittungen zusammen. Sie belegen unter anderem die Ausleihe so wertvoller Bestände wie Akten der sächsischen Gesandtschaft im Russland des 17. Jahrhunderts, Archivalien des „Geheimen Rates“ und des „Geheimen Kabinetts“.

Bis 1955 kommt knapp die Hälfte der Dresdner Bestände aus Moskau zurück. Außerdem fehlen zu dieser Zeit auch etwa 530 Bände des Wittenberger Archivs. Sie waren 1945 zusammen mit den Kunstschätzen vom Königstein nach Moskau verbracht worden. Etwa zwei Drittel der Wittenberger Akten kehren 1958 mit den Schätzen des Grünen Gewölbes nach Dresden zurück. Der beträchtliche Rest fehlt. Noch 1963 bemüht sich das Dresdner Staatsarchiv um die Rückkehr der „ausgeliehenen“ Bestände. Das Argument: DDR-Historiker, die im SED-Auftrag die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aufschreiben, monieren die fehlenden, aber unerlässlichen Quellen. DDR-Archivare haben die Dresdner Bestände im Moskauer Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus sogar gesehen. Fast 700 Akten und historische Karten lagern bis heute in einem Moskauer „Sonderarchiv“, sagt Peter Wiegand. „Sie gelten als Teil des deutsch-russischen Beutekunst-Problems.“ Das heißt: Auf ungewisse Zeit bleiben sie Dauerleihgaben.

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Quelle: Thomas Schade, Sächsische Zeitung, 26.4.2004

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