In dieser „Baecke-rey“ stäubt es feinsandig von den Gewölbedecken. Frische Brötchen sind allerdings das einzige, was Dr. Martin Roelen und seine acht Mitarbeiter hier vermissen. Der Weseler Stadtarchivar hat hinter den dicken Mauern der 1809 erbauten Garnisonsbäckerei die Obhut über eines der ältesten und bedeutendsten Archive des Rheinlands.
Wer erst im letzten Sommer 80 Euro-Paletten voller bedruckten oder handbeschriebenen Papiers – jede eine halbe bis ganze Tonne schwer – hinter den soliden Ziegelmauern unterbrachte, der denkt in archivarisch anderen Dimensionen. Dreieinhalb laufende Kilometer an Urkunden, Ratsprotokollen, Kassenbüchern, Bauplänen, Luftbildern, Karten , plus schöner Literatur aus historischer Sammlung bewahrt das neue Archiv im alten Gemäuer der Zitadelle unmittelbar neben dem schmucken Haupttorgebäude und Wesels Preußenmuseum.
Ein weiterer Kilometer Aktenbestand blieb im Rathaus. „Das ist nicht viel“, meint Dr. Roelen – ein Duisburger übrigens, „nicht Weselaner und nicht Weselinski“. In Sachen früher Stadtgeschichte dürfte ihm aber kaum ein Weseler etwas vormachen. Schließlich ist im klimatisierten Keller unter seinem Büro alles versammelt – von der Stadterhebungsurkunde 1241, samt Siegelkapsel zwischen Spezialfolien gehängt, über die bis 1466 zurück reichenden ältesten Ratsakten bis zu den aus Luftbildern zusammen geklebten Karten alliierter Bomberpiloten.
„Wesel war zu 98 Prozent zerstört“, sagt Dr. Roelen, „aber wir haben einen Großteil der Bauakten“. Und deren Geschichte klingt abenteuerlich genug: Während des Weltkrieges war das Stadtarchiv ins Haupttorgebäude ausgelagert – „ein Raum blieb stehen“, sagt Dr. Roelen. Der mit den Akten. Das kostbarere Gut verfrachtete man damals in ein niedersächsisches Kali-Bergwerk. Dort lagerten auch die Bestände der Göttinger Universitäts-Bibliothek – und eine Menge Munition.
„Das Bergwerk ist explodiert und abgesoffen.“ Dem späte-ren Stadtarchivar blieb dennoch vieles erhalten, weil die Weseler Schätze zuoberst lagerten und in Teilen gerettet werden konnten. Schlimmer gelitten hat allerdings die damals noch vom Konrad-Duden-Gymnasium bewahrte Bibliothek des Humanisten Heresbach. Drei Viertel seiner Sammlung gingen verloren.
Dem erhaltenen Erbe verdankt das Stadtarchiv kostbare „Wiegendrucke“, das sind die frühesten Druckwerke aus den Jahrzehnten vor 1500, bildschöne Atlanten – und eine völlig unscheinbare Rarität: Dieses juristische Werk aus dem niederländischen Zutphen, erklärt Dr. Roelen ohne falsche Beschönigung, sei deshalb „unser seltenstes Buch“ – weil es so schlecht gedruckt war. Die besseren Bibliotheken des Barock hätten diesen „unnützen Wiegendruck“ wohl in ihrer Zeit schlicht entsorgt – bis weltweit nur noch zwei Exemplare übrig blieben.
Gezieltes Aussortieren ist heute für einen Stadtarchivar wichtiger denn je. Schließlich hat sich die städtische Papier-Produktion im Vergleich zu früheren Jahrhunderten inflationiert. Den Ratsschreibern von 1460 bis 1560 genügte noch ein Bändchen im kostensparenden Schmalfolio-Format für vier Jahrgänge.
Ausgerechnet mit einem schwerhörigen Schreiber des 16. Jahrhunderts begannen die Wortgirlanden zu wuchern. „Er wollte seine Taubheit durch Vielschreiberei kompensieren“, erzählt Dr. Roelen. Der Archivar, der niederdeutsche Handschrift vom Blatt liest, räumt ein, er habe „manchmal nicht verstanden, was der wollte“.
Vor dem Sprach-Schwulst dieses Missetäters retteten sich die damaligen Stadtväter übrigens, indem sie ihn in den Rat wählten. Um Aufklärung im Kanzleideutsch bemüht sich das Stadtarchiv mit einer eigenen Schriftenreihe, den „Studien und Quellen zur Geschichte von Wesel“. Für die nächste Publikation schreibt Dr. Roelen über die Edikte der Hansestadt bis 1600.
Eine feine Adresse neben der preußischen „Baeckerey“ ist auf der anderen Seite der Schillstraße ausgerechnet das alte Gefängnis: Hier arbeiten die dem Stadtarchiv angeschlossenen Buchrestauratoren, vereinen traditionelle Handwerkskunst mit modernster Papieranalyse. Hier sind die Schätze der Heresbach-Bibliothek bewahrt, mustergültig restauriert und gehüllt in edle Leinenschuber. Hier präsentiert Dr. Roelen auch eine fein restaurierte Zweitauflage von 1555 der „Fabrica“ des berühmtesten Weselers: des Anatomen Andreas Vesalius.
Über Privatkunden freuen sich die städtischen Bücherärzte ebenso wie über Buchpaten, deren gute Tat dann in einem „Exlibris“ in der Innenseite des frischen Einbands verewigt wird. Auch das Stadtarchiv steht Besuchern offen (dienstags bis donnerstags von 10 bis 16 Uhr) – mit einem Lesesaal, auf dessen freundliche Atmosphäre mit Backsteingewölbe, vollverglasten Regalen und moderner technischer Ausstattung alle städtischen Kellerarchive im Lande neidisch sein dürften.
Nur: Es rieselt immer noch leise in Preußens altem Mehllager. Aus dem Trockenziegelgefüge des Baudenkmals, das keineswegs unter Putz durfte, rinnt lautlos der Sand. Um die Festigkeit des Massivbaus mit drei Meter dicken Außenmauern muss niemand fürchten – aber zum Schutz des teuren Mikrofilm-Scanners ließ der Archivar einen blauen Baldachin spannen. So stilvoll drapiert sich eher selten die Verbindung von High-Tech und konservatorischer Akribie. hängen so am schonendsten: zwischen Spezialfolien, die Siegel in schützender Kapsel.
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Quelle: WAZ, 2.2.2004