Stuttgarter Prozessakten zum Film „Jud Süß“ freigegeben

„Wenn ich in der Welt des Theaters lebe, so ist das so schön, und ich bin froh, dass ich von dem Alltagsleben weg bin.“ (Werner Krauß, 1947) Der Mann lebte in seiner eigenen Welt. Zu Lebzeiten sinnierte er über seine Beerdigung und wünschte sich, eines Tages im Wiener Burgtheater aufgebahrt zu werden. Kein Minister, kein Direktor, kein Schauspieler sollte beim Begräbnis sprechen: „Damit niemand in Versuchung kommt zu lügen.“ So spricht einer, der sein Gesicht noch über den Tod hinaus wahren will.

Im Jahr 1940 spielte Werner Krauß im antisemitischen Hetzfilm „Jud Süß“ unter der Regie von Veit Harlan fünf jüdische Nebenrollen. Krauß galt im Jargon der Nazis als „arischer“ Schauspieler. Er hatte in der Weimarer Republik in mehr als hundert expressionistischen Filmen mitgespielt, er war unter anderem der bösartige Dr. Caligari in der berühmten Verfilmung von Robert Wiene. In der Nazizeit gab er Shakespeares Bösewicht Richard III. und den Juden Shylock. Krauß wurde einer der meistgefragten Schauspieler, er war Staatsrat und Vizepräsident der NS-Reichstheaterkammer.

Krauß' Aufstieg vom kleinen, am 23. Juni 1884 in Gestungshausen (Oberfranken) geborenen Pastorensohn zu Joseph Goebbels' Vorzeigedarsteller wurde nach dem Krieg Gegenstand eines atemberaubenden Prozesses. Dieses Spruchkammerverfahren fand von 1946 bis 1948 in Stuttgart statt – Krauß wohnte in der Zeppelinstraße 47. Im Jahr 1946 hatte sich die US-Militärregierung entschlossen, die Verantwortung für die Entnazifizierungsverfahren deutschen Gerichtskammern zu übertragen. Das rechtskräftige Urteil gegen Krauß unterzeichnete ein deutscher Richter.

Jahrelang war der Inhalt der Akten unbekannt. Erst jetzt, da die Sperrfrist abgelaufen ist, werfen die Dokumente aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg auf den Künstler ein trübes Licht. Zwei Fragenkomplexe bestimmten damals die Verhandlung. Warum hat Krauß im Jahr 1940, als der SS-Staat bereits längst öffentlich Juden verfolgte und mordete, bei „Jud Süß“ mitgewirkt? Warum hat er seine Schauspielerehre für das stattliche Honorar von 50.000 Mark an einen Film verkauft, der darauf abzielte, Juden als „Untermenschen“ zu diffamieren? Die eigenen Antworten darauf hat Krauß mit ins Grab genommen.

Vier Anläufe und vier Urteile benötigten die deutschen Richter, um zu klären, wie Krauß' Sündenfall im Zuge der Entnazifizierung politisch-juristisch zu bewerten sei. Das Verfahren gestaltete sich durch neue Einsprüche des öffentlichen Klägers und neue Zeugenaussagen als sehr kompliziert. In welche der fünf Kategorien war der Angeklagte gemäß dem (1946 von den Alliierten erlassenen) „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ einzuordnen? War er Hauptschuldiger, Belasteter, Minderbelasteter, Mitläufer oder gar unbelastet? In den beiden ersten Instanzen wurde er freigesprochen, in dritter Instanz als „Minderbelasteter“ verurteilt. Erst im vierten Anlauf wurde Krauß als „Mitläufer“ eingestuft. Er legte dagegen Berufung ein – vergeblich.

Die Akte Krauß erzählt die unheimliche Geschichte einer deutschen Karriere. Sie ähnelt in verblüffender Weise dem schier unaufhaltsamen Aufstieg des Staatsschauspielers Gustaf Gründgens, des berühmten Mephisto aus dem gleichnamigen Schlüsselroman von Klaus Mann. Gründgens (der bei Mann Hendrik Höfgen heißt) brachte es zum Generalintendanten der Preußischen Staatstheater.

Gründgens wurde zum Aushängeschild der Nazis. Nach 1945 ging seine Karriere nahtlos am Düsseldorfer Schauspielhaus weiter. „Ich habe ein Gesicht bekommen, das genügt. Aber ich habe nicht mein Gesicht“, hat Gründgens 1932 gesagt. Der Satz könnte genauso gut von Werner Krauß stammen. Der Gesichtsverlust beider Künstler steht exemplarisch für die Signatur einer Epoche. Darin liegt die Dramatik ihrer Geschichten.

Der Fall Krauß zeigt, wie schwierig es für die damalige überforderte Justiz gewesen ist, gegen einen sich als völlig unpolitisch ausgebenden Menschen Recht zu sprechen. Krauß begriff sich als ein über alles Alltägliche erhabenes Künstlergenie. Er war in der Nazizeit mit dem schon damals weltberühmten, 1933 emigrierten Schriftsteller Carl Zuckmayer befreundet. Auf dessen entlastende Aussagen stützte sich auch die Justiz. Zuckmayer merkte an, dass Schauspieler unter einer Berufskrankheit litten: „Die meisten Schauspieler neigen zu einer Art von Infantilismus.“ Schauspieler wie Krauß trügen „deutliche Züge von Schizophrenie“.

Krauß' Wandlungsfähigkeit ging bis zur Selbstaufgabe. Im Hitlerstaat war das Konstrukt einer unpolitischen Kunst per se fragwürdig geworden, da es im engen Sinne keine unpolitischen Äußerungen mehr gab. Nach dem Krieg musste ihn sein Anpassungsgeschick kompromittieren. Eben darauf zielte die Anklage, die Krauß vorwarf, durch seine Rollen in „Jud Süß“ den „Nationalsozialismus wesentlich unterstützt“ zu haben.

Dabei trat Krauß zu keinem Zeitpunkt der NSDAP bei und behauptete auch 1947 vor Gericht: „Ich kann nur sagen, ich bin niemals ein Antisemit gewesen.“ – War Krauß ein Antisemit? „Wenn ja, dann nicht im politischen, höchstens in einem nebelhaft-unklaren, gefühlsmäßigen Sinn. Sicher war er nie ein Judenhasser nach der Nazidoktrin“, meinte Zuckmayer. Dem Angeklagten kam es zugute, dass renommierte Künstler wie Erich Kästner und Gründgens vor Gericht versicherten, dass sie bei Krauß „nie Antisemitismus“ hätten beobachten können. Krauß pflegte seine Freundschaften zu Juden auch nach 1933 weiter, arbeitete eng mit Max Reinhardt zusammen. Ebenso beteiligte er sich laut Zeugenaussagen an Geldspenden für verfolgte Juden, wie im Fall des Wiener Regisseurs Emil Lind. Um welche Summen es sich handelte, ist indes nicht bekannt. Doch auf der anderen Seite standen die Zeugenaussagen der Exilanten Ludwig Berger und Fritz Kortner. Die Regisseure behaupteten, Krauß sei „herzlich antisemitisch“. Bereits die Shylock-Rolle im „Kaufmann von Venedig“ habe Krauß so gespielt, dass der Jude Shylock diffamiert worden sei.

Noch schwieriger war es für die Richter, eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb Krauß überhaupt im Film „Jud Süß“ mitgewirkt hatte. Der Angeklagte verteidigte sich vor Gericht: Erstens sei er von Goebbels unter Druck gesetzt worden. Zunächst habe er eine Mitarbeit an diesem Film abgelehnt. Aus Angst vor dem KZ habe er schließlich doch nachgegeben. „Ich zerstörte mir meinen eigenen Grund, den ich mir aufgebaut habe, aber nicht von mir aus – denn für so dumm darf man mich nicht halten -, sondern auf das Drängen höherer Gewalten.“

Sprach er die Wahrheit? Oder spielte Krauß vor Gericht eine Rolle, so wie viele andere ehemalige Funktionsträger, nicht zuletzt der „Jud-Süß“-Regisseur Veit Harlan, nach 1945? Die Spruchkammerakte zeigt, dass die Richter erhebliche Zweifel an Krauß“ Aussagen hatten.

Der Angeklagte sagte vor Gericht zweitens, er habe in „Jud Süß“ die jüdischen Figuren „so sauber“ gespielt, „wie mir es überhaupt möglich war“. Ursprünglich seien sie boshaft geschrieben worden, doch er habe sie „in humoristischer Weise“ dargestellt. Außerdem habe er durch sein Mitwirken Schlimmeres verhüten wollen.

Das Filmmaterial, das heute weit gehend verboten ist, spricht jedoch eine eigene, eindeutige Sprache. Krauß setzte groteske Akzente, bediente mit seiner angeblich „humoristischen“ Spielweise schlimmste antisemitische Klischees. Im Kino sahen 20,3 Millionen Zuschauer die Bildersprache des „Stürmers“.

Der hochbegabte Schauspieler Krauß hat – so wie die Regisseurin Leni Riefenstahl, wie Harlan und Gründgens – bis zuletzt die politische Dimension seines Arrangements mit dem Hitlerstaat verdrängt. Er erhielt von der US-Militärregierung in den Jahren 1945 bis 1948 Berufsverbot. 1948 trat er wieder im Burgtheater auf. Man verlieh dem Künstler in späteren Jahren den Ehrenring der Stadt Wien und den Iffland-Ring. Werner Krauß starb am 20. Oktober 1959 in Wien. Am Tag seiner Beerdigung kamen viele tausend Menschen. Erst wurde der Sarg im Hofburgtrakt des Burgtheaters aufgebahrt, dann wurde er um das Theater getragen. Niemand hielt eine Rede. Auf dem Burgtheater wehte eine schwarze Fahne.

Info:
Die Spruchkammerakte Werner Krauß. Ediert, eingeleitet und kommentiert von Gunther Nickel und Johanna Schrön. In: Zuckmayer-Jahrbuch 2003, Band 6. Wallstein-Verlag, Göttingen 2003, 40 Euro.

Quelle: Stuttgarter Zeitung, 29.11.2003

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