Im Archiv der KP Spaniens verstauben Fotos – wahrscheinlich von Robert Capa

Madrid. Weil der Blick zurück noch schmerzt, bleiben die dunklen Kapitel der jüngeren spanischen Geschichte bis heute aus der öffentlichen Debatte weitgehend ausgespart. Abgesehen von vereinzelten Ausstellungen und Publikationen, haftet der Beschäftigung mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur seit dem Schweigegebot der Demokratisierung der Ruf des Tabubruchs an. Unterdessen lagern Hunderttausende Bild- und Tonzeugnisse in den Archiven von Parteien und Stiftungen sowie in privaten Sammlungen.

Einer der besonderen Schätze befindet sich im Archiv der Kommunistischen Partei (PCE): Eine Sammlung von 1.338 Negativen aus dem Bürgerkrieg (1936-1939), mutmaßlich von dem berühmten Kriegsreporter Robert Capa. Wann und wie sie an die PCE gelangte, die ihr Archiv während der Diktatur ins Ausland verlagern musste und erst 1977 wieder zugelassen wurde, ist strittig, ebenso wie ihr Wert. Die entwickelten Negative sind von außerordentlicher ästhetischer sowie handwerklicher Qualität: Frontszenen, Kundgebungen, Feldlager, Leichenhallen, Porträts, Aufmärsche, Propagandaplakate der republikanischen Streitkräfte und der Internationalen Brigaden – alle diese Capa-Themen finden sich hier wieder, und das Frappierende daran ist: Die Aufnahmen entstanden vielfach mit der gleichen Kamera (Leica mit 35 mm-Objektiv), an denselben Orten und zur selben Tageszeit wie die autorisierten Capa-Bilder. Manche Fotos zeigen sogar dieselben Motive nur wenige Augenblicke zeitlich von offiziellen Capa-Fotos versetzt. „Wenn es nicht Capa selbst war, dann doch jemand, der dieselbe Kamera hatte und sich stets in seiner Nähe befand wie seine Freundin Gerda Taro oder sein Kollege David 'Chim' Seymour“, sagt die Archivarin Victoria Ramos.

Der ungarische Jude Capa, bürgerlich André Friedmann, hatte sich gerade durch Spanien einen internationalen Ruf erworben. Sein Foto eines tödlich getroffenen Milizionärs für die französische Zeitschrift „Vu“ machte den 1913 in Budapest geborenen Autodidakten über Nacht berühmt. Erstmals in der Kriegsreportage galt der Blick des Mannes mit dem Leitsatz: „Wenn das Foto nicht gut genug, ist, dann war ich nicht nahe genug dran“ nicht den Uniformen, Aufmärschen und Schlachtszenen, sondern vor allem dem Menschen hinter der Waffe und den Zivilisten hinter der Front. Das brachte seinen Arbeiten auch die Honorare ein, die er zuvor durch den Marketing-Schwindel seines Pariser Zwei-Mann-Studios ergaunerte: Zusammen mit der Polin Taro – bürgerlich Pohorylles – als Sekretärin entwickelte sein kleines Labor angeblich nur die Aufnahmen eines berühmten amerikanischen Fotografen Robert Capa. Nach der Enthüllung wurde der Name zum Pseudonym und seine Arbeiten aus Spanien – wo Taro im Juli 1937 von einem Panzer überrollt wurde -, seine Fotos von der US-Invasion in der Normandie, aus Indochina, wo der Fotograf 1954 auf eine Mine trat und starb, sowie seine berühmten Porträts etwa von Picasso, der den Strandschirm über seine Freundin Francoise Gilo hält, gehören zu den meistpublizierten der Fotogeschichte.

Nun mag es gegen die Authentizität des PCE-Fundus Einwände geben. Der österreichische Fotograf Erich Lessing etwa, der später bei Capas 1947 gegründeter Agentur Magnum arbeitete, schreibt einige Aufnahmen dem Deutschen Walter Reuter zu. Denn die kommunistische französische Zeitschrift „Regards“ publizierte am 26. August 1937 Reuter-Aufnahmen von Propagandaeinheiten, deren Pendants sich ebenfalls im PCE-Archiv finden, dazu Aufnahmen, die den vormaligen Fotografen der „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“ zusammen mit Milizionären zeigen. Dabei ist jedoch überliefert, dass mindestens Capa, Taro und Seymour ihre Fotos gemeinsam an die Publikationen übermittelten und die Autorenschaft nicht penibel überwachten. Zudem belegen Notizen auf einigen Abzügen, die mit der Sammlung an die PCE gelangten, dass Capa viele Aufnahmen mindestens in der Hand hatte: „Pays basque“ steht auf der Rückseite des Fotos eines zerstörten baskischen Hauses in derselben Handschrift, die in einem Ausstellungskatalog der Landesregierung Valencias von 1987 neben autorisierten Capa-Fotos aus Bilbao auftaucht und dem Reporter zugeschrieben ist. Im Katalog stimmen überdies 56 Motive mit Negativen aus dem PCE-Archiv überein.

„Die Aufnahmen sind mit über 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit von Capa selbst“, sagt auch die Foto-Konservatorin der staatlichen Stiftung Reina Sofia für zeitgenössische Kunst, Catherine Coleman. „Es sind fantastische Aufnahmen, und sie sind mit demselben Licht, derselben Technik und demselben künstlerischen Blick entstanden wie die Fotos, die wir von Capa kennen.“ Coleman hatte sich die Sammlung bereits vor Jahren begeistert angesehen, indessen kam das Museum auf die Bilder nie zurück. Auch das spanische Außenministerium zeigte Interesse an den Fotos, zur Publikation kam es jedoch nicht. Capa-Biograf Richard Whelan wollte sich die Fotos nicht einmal ansehen.

„Der Fall ist heikel“, sagt Coleman. „Capas Bruder Cornell hat die Rechte an seinem Nachlass, und niemand möchte sich da die Finger verbrennen.“ Wollen die Capa-Erben den Schatz ignorieren, damit die Preise für den autorisierten Nachlass nicht fallen? Meidet man die PCE-Sammlung, um der Stiftung ein Geschäft vorzuenthalten? Oder ist es das Desinteresse an der schmerzlichen Vergangenheit Spaniens?

Sicher ist: Die spanischen Mittel reichen für eine intensive Erforschung nicht aus. Der Staat gibt nur minimale Hilfen für die Kulturarbeit der politischen Stiftungen – 3,6 Millionen Euro, proportional aufgeteilt nach Sitzen im Palament. Die Capa-Fotos dürften also bis auf weiteres in den Magazinen verstauben.

Quelle: Die Welt, 13.6.2003

Ausstellung „Kompilationen & Databases“ in Bremen

Archive sind selbstlos. Nur dazu da, Dokumente zu speichern, leise, unaufdringlich, umfassend – Bastionen der Seriosität. Bei den Archiven von heute, den Datenbanken hat das Image gelitten: Viel schneller stellt sich bei der digitalen Informationsfülle die Frage: Wer trifft da die Auswahl und nach welchen Kriterien? Die Datenbank ist eine subjektive Angelegenheit. Und „wir wollen die subjektive Ebene dabei sichtbar machen“, sagt Dorothee Richter, Kuratorin der Ausstellung „Kompilationen und Databases“, die am 13.6. um 20 Uhr im Künstlerhaus am Deich eröffnet wird.

Drei Beiträge sollen das Anliegen verdeutlichen: Der französische Künstler Jerome Joy hat eine Jukebox ins Künstlerhaus gestellt, die verschiedenste Sounds von Künstlern und Musikern zugänglich macht – die Kontakte entstanden vor allem über das Internet. Die Bandbreite der Klänge reicht vom verfremdeten Song bis zum zerfurchten Flächensound, bereitgestellt beispielsweise von Martin Kippenberger oder Funkmeister G oder von unbekannt unter dem Titel „Stockhausen Remixed“.

Der Filmemacher Florian Wüst hat für die Schau ein Filmprogramm zusammengestellt: Fünf Kurzfilme aus den Niederlanden, Belgien, Großbritannien und China untersuchen unter der Überschrift „Der Fortschritt, die Stadt und die Arbeit“ den Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung und Veränderung der Lebensumstände in den Städten.

Letzter möchte Marion Bösen erobern mit ihren Fotos, die sie als Aufkleber in der Auflage von 400 Stück dem Publikum zur freien Verwendung zur Verfügung stellt. Zu sehen ist auf den Bildern das immer gleiche Motiv in Variationen: Bösen hat an gespreizten Beinen vorbei Vaginas im Alltag fotografiert, und das heißt: Bekleidet mit Slips. Kuratorin Richter: „Es ist ein Spiel mit dem Voyeurismus.“

Die Ausstellung „Kompilationen & Databases“ läuft bis zum 13.7.2003 im Künstlerhaus Am Deich (Bremen).

Kontakt:
Künstlerhaus Bremen
Am Deich 68/69 28199 Bremen
Fon: 0421 – 50 85 98 | Fax: 0421 – 50 83 05
kuenstlerhb@t-online.de
www.kuenstlerhausbremen.de

Quelle: TAZ Bremen, 13.6.2003.

Beim Rathausabbruch irrte Pesserl

Schwandorf. Eigentlich hatte der Oberstudiendirektor a. D. Franz Sichler seine Dokumentation zur Geschichte der Schwandorfer Rathaushäuser nahezu abgeschlossen. Plötzlich aber folgte dann ein Paukenschlag: Stadtarchivar Josef Fischer fand alte Unterlagen, die es erforderlich machten, bisher Unbekanntes einzufügen.

Die Geschichte der Schwandorfer Rathäuser beschäftigt den langjährigen Stadtrat Franz Sichler seit geraumer Zeit. Er trug Fakten zusammen, sammelte Daten, sah in alten Unterlagen nach und schrieb seine Erkenntnisse in einer Dokumentation nieder. Sichler war fast fertig damit, als Archivar Josef Fischer ein altes Aktenbündel aus dem Jahr 1808 fand. Insgesamt dreizehn Protokolle, Abschriften, Beschlüsse, Bekanntmachungen und Aktennotizen enthielt dieses Konvolut bemerkenswerter Papiere.

Die Unterlagen beschäftigen sich mit dem Abbruch des ehemaligen historischen Rathauses, das auf dem unteren Marktplatz stand und allem Anschein nach gut 18 Meter hoch war. Bisher war durch den Schwandorfer Chronisten Pesserl angenommen und überliefert worden, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Stadtarchiv mit Ausnahme wichtigster Urkunden alle anderen Unterlagen zur gewerblichen Verwertung abgegeben habe. Dies ist durch den Fund widerlegt. Mehr noch: Pesserl, 1804 geboren und damit vier Jahre vor dem Abbruch des historischen Rathauses am Marktplatz zur Welt gekommen, war in seinen Aufzeichnungen zu der Ansicht gelangt, eine „rege gewordene Neuerungssucht“ habe den Abbruch beschließen lassen. Aus den nun zur Verfügung stehenden Dokumenten geht aber hervor, dass dieser Abriss wegen drohender Einsturzgefahr zwingend erforderlich geworden war. „Dies“, sagte gestern Franz Sichler in Gegenwart von Oberbürgermeister Helmut Hey und Archivar Josef Fischer, „ist genau das Gegenteil“.

Das gefundene Quellenmaterial liefert außerdem eine Reihe interessanter Nebenaspekte. So sind zwei der Dokumente mit einem aus Papier bestehenden aufgeklebten Siegel versehen. Darauf steht: „Kgl. Baierischer Verwaltungsrath Schwandorf“ samt einem Wappen, das bisher unbekannt war. Außerdem liefern Unterschriften die Namen der Magistratsräte, der Mitglieder des Bürgerausschusses sowie der Maurer und Zimmerer, die ein Gutachten über den baulichen Zustand des Rathauses und die zu ewartenden Abbruchkosten erstellten.

Allerdings gibt es, wie Franz Sichler gestern bedauerte, auch unbeantwortet gebliebene Fragen. Zum Beispiel: Warum wurde am Standort des „historischen Rathauses“ auf dem Marktplatz nicht ein Neubau in diesem Stil errichtet? Ungeklärt, so Sichler, sei auch, wo der Magistrat mit seinen sechs Räten und die 18 Gemeindebevollmächtigten nach Einführung der Gemeindeordnung im Jahre 1818 tagten. Anzunehmen ist wohl, dass dafür das so genannte Ratschreiberhaus ausreichende Räume bot.

Im November diesen Jahres zur Einweihung des neuen Schwandorfer Rathauses will Franz Sichler seine dann abgeschlossene Dokumentation vorlegen.

Quelle: Der Neue Tag, 12.6.2003.

Kontakt:
Stadtarchiv Schwandorf (Bayern)
Stadtverwaltung
Kirchengasse 1
92421 Schwandorf
Postfach 1880
92409 Schwandorf
Tel.: 09431/45-254
Fax: 09431/3597
hauptamt.fischer@schwandorf.de
www.schwandorf.de

Archive gegen digitales Alzheimer

Insgesamt 800.000 Euro stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jetzt zur Entwicklung eines virtuellen Archivs bereit. Das dreijährige Projekt unter Federführung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt dient der Erhaltung digitaler Dokumente und soll bis Mai 2006 unter Berücksichtigung entsprechender Initiativen im Ausland eine bundesweit einheitliche Strategie zur Sicherung und Langzeit-Verfügbarkeit von digitalen Publikationen erarbeiten. 

Das „Kompetenznetzwerk für Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressourcen in Deutschland“ wird sich unter anderem auf Auswahlverfahren für die erhaltenswerten Quellen, Grundsätze zur Einbindung der Museen und Archive, Kriterien für die Vertrauenswürdigkeit digitaler Archive und Zertifizierungsverfahren für Archivserver konzentrieren. Darüberhinaus sollen Daueraufgaben definiert und unter den Archivbibliotheken in Deutschland abgestimmt werden.

Die Furcht vor dem Gedächtnisverlust plagt nicht nur hierzulande. Vergleichbare Aktivitäten gibt es beispielsweise mit dem „National Digital Information Infrastructure and Preservation Program“ in den USA, dem Pandora-Archiv in Australien, dem gemeinsamen „Nordic Web Archive“ der skandinavischen Länder und der britischen „Digital Preservation Coalition„. (Heise/c't)

OB Krüger: Stasi-Akten gehören der Region

Neubrandenburg (rw). Das Kostenargument für die Schließung der Außenstelle Neubrandenburg der Behörde für die Stasi-Unterlagen lässt Oberbürgermeister Paul Krüger (CDU) nicht gelten. Er ist sich sicher, dass die Akten kostengünstig auch in der Viertorestadt zu verwahren seien. Krüger denkt beispielsweise an das Medienzentrum, das im HKB eingerichtet werden soll. Das habe er auch Behördenchefin Marianne Birthler in einem Gespräch versichert. Wie der OB gegenüber unserer Zeitung erläuterte, soll das Medienzentrum ja gerade regionale Archive speichern und zugänglich machen. Im übrigen, so Krüger, gehörten die Stasiakten der Bezirksverwaltung in die Region und müssten dort auch bleiben. „Ich will gar nicht zulassen, dass sie nach Rostock verschwinden“, kündigte Krüger Widerstand gegen die Pläne der Behörde an. Dezentralisierung sei schließlich der aktuelle Trend. Gegenüber den Bürgern, die Akteneinsicht nehmen wollten, sei es nicht vertretbar, dass sie bis nach Rostock fahren sollten. Das wäre auch ökologischer Unsinn. Schwerwiegend sei auch der Verlust der Arbeitsplätze für Neubrandenburg. Es gehe Kaufkraft verloren, was wiederum bewirke, dass weitere Arbeitsplätze verloren seien. Oberbürgermeister Paul Krüger hat im Gespräch mit Marianne Birthler erfahren, dass die Landesregierung in die Entscheidung der Behörde, den Standort Neubrandenburg zu schließen und in Rostock zu zentralisieren, nicht einbezogen worden ist. Das hält er „gerade bei einer raumordnerischen Frage für mehr als merkwürdig“. Doch nun erwarte er von Schwerin, dass sich die Regierung wenigstens hinterher äußere, sich in die Bresche schmeiße und zwar für Neubrandenburg. „Es kann nicht sein, dass die Mecklenburgische Seenplatte immer wieder benachteiligt wird.“ Seine Argumente will Krüger der Behördenchefin auch noch in einem Brief vortragen. Zuvor wolle er den Regionalen Planungsverband „Mecklenburgische Seenplatte“, dessen Vorsitzender der OB ist, mobilisieren. Er hofft auf die Unterstützung der Landräte. Das sei schließlich nicht eine Sache der Stadt allein, sondern der gesamten Region.

Quelle: Nordkurier vom 10.6.2003

„Gelassenheit und Schaffensfreude“ im neuen Archivlesesaal von Weimar

Weimar (tlz). Blumen über Blumen und originelle Präsente waren äußeres Zeichen der hohen Wertschätzung, die Professor Volker Wahl, Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar anlässlich seines 60. Geburtstages entgegengebracht wurde. Und weil der Empfang zu Ehren des Jubilars im fast fertiggestellten neuen Archivlesesaal in der ehemaligen Reithalle des Marstalls stattfand, wohnten die zahlreichen Gäste, darunter Weimars Prominenz aus Kultur und Archivwesen, gleichzeitig einer Premiere bei. In lichter Funktionalität und bislang nicht gekannter Großzügigkeit öffnen sich den Nutzern des Archivs ab August optimale Arbeitsmöglichkeiten. „Der Marstall ist noch nicht fertig“, dämpfte Dr. Hermann Post, stellvertretender Archivdirektor, hochfliegende Erwartungen. Viel Geduld sei erforderlich, das „Schlachtschiff Thüringer Archive“ sicher in die Zukunft zu manövrieren. „Eine große Herausforderung für den Mann auf der Brücke“, anerkannte Post. Die „Mannschaft“ und befreundete Archivare dankten dem umsichtigen Steuermann mit einer „Kommandobrücke“ klassischer Provenienz, mit einem Nachbau von Schillers Stehpult. Gefertigt aus Kiefernholz, durch entsprechende Farbigkeit in warmem Zimtton optisch aufgewertet, erst der fünfte Nachbau überhaupt nach einem alten Scherenschnitt, den Restaurator Eberhard Burkhard, Jena, wissenschaftlich ausgewertet hatte. Weiterhin „Gelassenheit und Schaffensfreude“ wünschte Dr. Hans Ammerich vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare dem VdA-Vorsitzenden.

Der Jubilar selbst dankte für so viel Aufmerksamkeit mit einem launigen Exkurs über Archivare und Archivbenutzer als Fabelwesen der Literatur („Der Archivar ist nicht dazu da, jedem Esel das Heu auf die Raufe zu stecken. Gotthold Ephraim Lessing“). Wie der Archivdirektor ankündigte, werden noch etwa zwei Monate benötigt, „bis der zweite Bauabschnitt mit den Büro- und Bibliotheksräumen im südlichen Westflügel, dem Tiefmagazin im Marstallinnenhof und dem neuen Lesesaalgebäude in der ehemaligen Reithalle endgültig abgeschlossen ist.“ Professor Volker Wahl, am 10. Juni 1943 in Steinbach-Hallenberg geboren, ist seit zwölf Jahren Leiter des Hauptstaatsarchivs.

Quelle: Thüringische Landeszeitung vom 10. Juni 2003

Das Berliner Tagebuch einer Unbekannten

So kamen die Russen, die Befreier, zu den Bewohnern Berlins: „breite Rücken, Lederjacken, hohe Lederstiefel … pralle Breitschädel, kurzgeschoren, wohlgenährt, unbekümmert“. So hat eine Frau, Anfang dreißig, sie am Freitag, den 27. April 1945, gesehen. Als sie am folgenden Samstag daran geht, ihre Erlebnisse zu notieren, ist sie von mehreren Sowjetsoldaten vergewaltigt worden. Die Schlagzeilen des „Völkischen Beobachters“ hatten die Angst davor systematisch geschürt, Schändungen waren Kellergespräch: „Allerlei Geschichten kursieren. Frau W. ruft: ,Lieber ein Russki auf’m Bauch als ein Ami auf’m Kopf.‘ Ein Witz, der schlecht zu ihrem Trauerkrepp paßt. Fräulein Behn kräht durch den Keller: ,Nu woll’n wir doch mal ehrlich sein – Jungfern sind wir wohl alle nicht mehr‘. Sie bekommt keine Antwort.“ 

Das Tagebuch der jungen Frau, das jetzt in der „Anderen Bibliothek“ wieder aufgelegt worden ist, gehört zu den merkwürdigsten Dokumenten der Nachkriegszeit. Es beginnt am letzten Geburtstag des Führers, „an dem Tag, als Berlin zum ersten Mal der Schlacht ins Auge sah“ und endet am 22. Juni 1945. Hellsichtiger, konzentrierter, intelligenter als hier sind die ersten Wochen des Kriegsendes wohl nirgends beschrieben worden, und doch umgibt eine Aura der Ungewissheit dieses Tagebuch. Die Autorin ist unbekannt, die Textgeschichte nur lückenhaft dokumentiert, das Geschehen im Berliner Irgendwo lokalisiert.

Als „bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe“, hat die junge Frau ihr Tagebuch gegenüber neugierigen Fragen im Luftschutzkeller verteidigt. Drei dicht beschriebene Schulhefte mit eingelegten Zetteln sind daraus geworden. Im Juli 1945 begann sie, ihre Aufzeichnungen mit der Schreibmaschine zu tippen, auszuformulieren. Nach Auskunft des Vorworts, von dem nicht verraten wird, wer es verfasste, „entstanden auf grauem Kriegspapier 121 engzeilige Maschinenseiten“. Dieses Manuskript kam auch in die Hände des Schriftstellers Kurt W. Marek, eines Bekannten der Schreiberin. Er nahm sich des Textes an und sorgte für eine Ausgabe in den USA.

Das muss verwundern, schließlich verfügt Kurt W. Marek über glänzende Kontakte zur deutschen Verlagswelt. Als freier Kritiker hatte er seine Karriere 1932 begonnen, schrieb im Dritten Reich für die „Koralle“ und die „Berliner Illustrierte Zeitung“. 1938 zur Wehrmacht eingezogen, war er Kriegsberichterstatter an der Ostfront, in Norwegen und Italien, wurde bei Monte Cassino verwundet, kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach Kriegsende wurde er Redakteur der Welt und Cheflektor des Rowohlt- Verlages. 1949 erschien unter dem Decknamen C. W. Ceram sein Sachbuch- Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“. Hauptsächlich wohl aus steuerlichen Gründen übersiedelte Marek in die USA, wo 1954 auch „A Woman in Berlin“ erstmals erschien, mit einem Nachwort Cerams versehen.

Übersetzungen ins Schwedische, Norwegische, Holländische, Dänische, Italienische, Ausgaben in Japan, Spanien, Frankreich und Finnland folgten. Die erste deutsche Ausgabe kam 1959 bei Helmut Kossodo (Genf und Frankfurt am Main) heraus und fiel durch. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wollte man diese Tagebuch-Aufzeichnungen nicht lesen.

Der Text, den der heutige Leser in seinen Händen hält, ist mehrfach überarbeitet worden. Es handelt sich keineswegs um Kritzeleien, niedergeschrieben in der Not des Augenblicks, sondern um einen gekonnt komponierten, um spätere Reflexionen ergänzten Bericht. Verändert hat ihn die Autorin, als sie 1945 ihr Tagebuch für einen Freund abschrieb, verändert wurden für die Buchausgabe „sämtliche Namen und zahlreiche Details“. Das Manuskript liegt heute bei der Witwe Kurt W. Mareks. Die Autorin, die unerkannt bleiben wollte, hat ihn vor ihrem Tode noch einmal durchgesehen. Dieses korrigierte Manuskript war die Textgrundlage für die Neuausgabe in der „Anderen Bibliothek“, in der die doch ausschlaggebende Textgeschichte höchst beiläufig behandelt wird.

Die gebildete, äußerst sprachbegabte Autorin, hatte wohl gute Kontakte zur Berliner Verlags- und Zeitungswelt. Viele Länder Europas hat sie bereist, darunter auch den europäischen Teil der Sowjetunion, sie kannte Moskau unter Stalin, und sie sprach russisch. Das hebt ihren Bericht heraus. Die Fahrräder und Uhren stehlenden, Lebensmittel verteilenden, vergewaltigenden Sowjetsoldaten erscheinen hier nicht allein als Männer, die aus dem Dunkel auftauchen und „Frau komm!“ rufen. Sie haben Namen und Biographien: Petka, Anatol, Andrej, ein weißblonder Leutnant, ein Major. Mit der gleichbleibend kalter Aufmerksamkeit werden das Verhalten der Deutschen und das Treiben der Sieger charakterisiert.

Als ein Matrose die Verfasserin bitte, ihm ein sauberes, ordentliches Mädchen zu besorgen, notiert sie: „Das ist denn doch die Höhe. Jetzt fordern sie von ihren besiegten Lustobjekten bereits Sauberkeit und Bravheit und einen edlen Charakter! Fehlt bloß noch ein polizeiliches Führungszeugnis, ehe man sich für sie hinlegen darf!“ Über eine Likörfabrikantin, hinter der die Russen ihrer Leibesfülle wegen oft hinterher waren, schreibt sie: „Die Likörfabrikantin freilich hat keine Not gelitten. Sie hat den ganzen Krieg hindurch was zum Tauschen gehabt. Nun muß sie ihr ungerechtes Fett bezahlen.“ Für die fünfziger Jahre, in denen man gern verschwiemelt-tiefsinnig über Krieg und Nationalsozialismus sprach, war das wohl zu deutlich.

Etwa 110 000 von den 1,4 Millionen Frauen Berlins sind nach Schätzungen – genaue Untersuchungen fehlen immer noch – zwischen Frühsommer und Herbst 1945 vergewaltigt worden. Rasche Abtreibungen hatten die Nationalsozialisten noch geplant, „um unerwünschten mongolischen und slawischen Nachwuchs zu verhindern“. Glauben wir dem anonymen Bericht, hätte allein durch Vernichtung der Alkoholvorräte viel Gewalt verhindert werden können.

„Trotz zahlreicher Befehle, in denen die Beschlagnahme verschiedener lebenswichtiger Ausstattung der Bevölkerung, die Durchführung eigenmächtiger Hausdurchsuchungen, Gewalttätigkeit und Vergewaltigungen sowie andere Willkürakte kategorisch verboten wurden, führen einzelne Armeeangehörige dieses schändliche Verhalten bis heute fort“, beginnt der Befehl Nr. 180, den der erste Berliner Stadtkommandant, Nikolai Bersarin, als Oberkommandierender der 5. Stoßarmee am 7. Mai zur „Organisation des Patrouillendienstes“ erließ. Aber selbst drakonische Strafen setzten der von vielen Kommandeuren geduldeten oder ermutigten Gewaltorgie kein Ende.

Anfang Mai hatten sich schon feste Verkehrsformen herausgebildet. Um nicht zum Opfer eines jeden zu werden, hatte sich die junge Frau einen Major als Beschützer zugelegt, der sie mit Lebensmitteln versorgte. „Er sang wieder, leise, melodisch, ich höre es gern. Er ist redlich, reinen Wesens, aufgeschlossen. Aber fern und fremd und so unausgebacken. Wir sind Westler alt und überklug – und sind jetzt doch Schmutz unter ihren Stiefeln.“

Das Tagebuch endet, als Gerd, der geliebte Freund der Verfasserin, von der Front kommt und sie ihm ihre Aufzeichnungen zu lesen gibt. Er will nicht wissen, was geschehen ist, stößt sich an der „Schamlosigkeit“, flieht ins Schweigen – und nimmt damit individuell die Jahrzehnte kollektiven Beschweigens vorweg. Dies hatte selbstverständlich auch politische Gründe, schließlich waren Vergewaltigungen und Plünderungen ein Lieblingsthema der verbohrten Rechten, die durch Aufrechnung den NS-Terror rechtfertigen wollte. Dass wenig über die tatsächlichen Erfahrungen der ersten Friedenstage gesprochen wurde, dürfte aber mindestens ebenso an der kläglichen Rolle liegen, die deutsche Männer dabei spielten. „In der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ,Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!‘ Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes.“

Wie darüber vernünftig zu reden wäre, kann man an diesem Bericht lernen: mitleidlos gegenüber Kollektiven und Gruppen, aufmerksam auf Hilfskonstruktionen und Lügen, mit denen einzelne ihr Durchwursteln rechtfertigen, genau in der Dokumentation individuellen Leids. Es wäre zu wünschen, dass eines Tages eine textkritische Ausgabe dieser einzigartigen Tagebuch-Aufzeichnungen erscheint. 

Info:
Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945.
Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003.
291 Seiten, 27,50 Euro.

Quelle: SZ vom 10.6.2003

Ausstellung „Klostersturm und Fürstenrevolution“

Vor 200 Jahren fanden zwischen Rhein und Weser im Zuge der französischen Revolutionskriege Umwälzungen der politischen Landkarte und Eigentumsverschiebungen größten Ausmaßes statt. Die Kirche verlor ihre weltliche Macht und enormen materiellen Besitz. Viele Klöster und Stifte wurden aufgelöst, Mönche und Nonnen heimat- und arbeitslos, Kirchenschätze in alle Winde verweht.

Mit der Ausstellung „Klostersturm und Fürstenrevolution. Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser 1794/1803“ erinnern die nordrhein-westfälischen Staatsarchive im Dortmunder „Museum für Kunst und Kulturgeschichte“ an das Ende der Klöster und geistlichen Staaten vor 200 Jahren.

Die Ausstellung zeigt mehr als 430 Exponate und umfasst elf Abteilungen. Die ersten drei Abteilungen beleuchten den Vorabend der Säkularisation: Sie geben einen Einblick in das Klosterleben des 18. Jahrhunderts, in die zeitgenössischen Vorurteile gegen Nonnen und Mönche sowie die Eigenheiten der geistlichen Staaten. Die folgenden vier Abteilungen geben einen Überblick über die politischen Ereignisse, die mit der Französischen Revolution ihren Anfang nahmen und mit der Auflösung bisher selbständiger Staaten endeten.

Einer dieser Bereiche ist der Reichsstadt Dortmund gewidmet, die 1803 ebenfalls ihre Selbständigkeit verlor und deren Klöster und Stifte durch die neuen Landesherren in Besitz genommen wurden. Die letzten vier Bereiche veranschaulichen die praktischen Konsequenzen der Säkularisation. Die Schicksale einiger heimatlos gewordenen Mönche und Nonnen werden ebenso beleuchtet wie die Auswirkungen auf die klostereigenen Kunstschätze. Illuminierte Handschriften des Mittelalters, Tafelbilder, Skulpturen und liturgische Gefäße erzählen vom rücksichtslosen Umgang mit sakralen Kostbarkeiten und von den Spuren ihrer oft abenteuerlichen Odyssee.

Der Ausstellungsrundgang endet mit der Umnutzung ehemaliger Klöster als Gefängnis, Irrenanstalt oder Fabrik und zeigt die Neubewertung mittelalterlicher Architektur am Beispiel Altenbergs. Zu den Höhepunkten der Präsentation gehören der „Hitda-Codex“ aus dem ehemaligen Damenstift St. Walburgis in Meschede und die Altartafel „Hl. Jakobus“ aus dem Kloster Liesborn. Der „Hitda-Codex“, ein Auftragswerk der Äbtissin Hitda aus dem 11. Jahrhundert, ist in einer Kölner Malerschule entstanden und weist mittelbyzantinische Einflüsse auf. Im Zuge der Säkularisation gelangte die Handschrift in die Hofbibliothek des Landgrafen Ludewig X. von Hessen-Darmstadt und befindet sich heute in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt.

Abenteuerlich ist die Reise der Altartafel „Hl. Jakobus“, die Anfang des 14. Jahrhunderts im Umkreis des Meisters von Liesborn entstanden ist: Da mittelalterliche Kunst bei den Aufhebungskommissaren zunächst keine Beachtung fand, wurden die Gemälde erst 1825 versteigert. Für den „Hl. Jakobus“ begann damit eine Odyssee. Zunächst wurde er Deckel einer Mehlkiste, nacheinander Teil von zwei Privatsammlungen, Exponat der Londoner National Gallery, Auktionsgut bei Christie, Besitz eines schottischen Marquess und dann versteigert bei Sotheby. Letztlich kehrte er an seinen Bestimmungsort im Museum Liesborn zurück.

Zur Ausstellung ist ein Begleitband mit zahlreichen Abbildungen erschienen. Vorträge führen in die ereignisreiche Zeit um 1800 ein, und bei Stadtrundgängen können sich Interessierte auf die Spuren des Dortmunder Klosterlebens begeben. Das Begleitprogramm wird in Zusammenarbeit mit dem Historischen Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark, die Museumsgesellschaft zur Pflege der Bildenden Kunst, dem Katholischen Bildungswerk der Dortmunder Dekanate e.V. und der Dokumentationsstelle für Dortmunder Kirchengeschichte durchgeführt.

Ort:
Museum für Kunst und Kulturgeschichte
Hansastraße 3
44137 Dortmund
Tel.: 0231/50-25522
Fax: 0231/50-25511
mkk@stadtdo.de 
http://www.museendortmund.de/mkk/

Öffnungszeiten:
dienstags, mittwochs, freitags und sonntags von 10.00 bis 17.00 Uhr;
donnerstags von 10.00 bis 20.00 Uhr; samstags von 12.00 bis 17.00 Uhr.

Eintritt:
5 Euro, ermäßigt 3,50 Euro, Schulklassen 2 Euro

Dauer:
Die Ausstellung ist noch bis zum 17. August 2003 zu besichtigen.

http://www.klostersturm.de/

Mittelalterliche Handschriften in einer Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek

München (SZ). Schon die Zeitgenossen scheint der um 1408/10 verfasste „Ring“ des Toggenburgischen Advokaten Heinrich Wittenwiler eher irritiert als begeistert zu haben: Es existiert nur eine autornahe Handschrift dieser Geschichte von Bertschi Triefnas und Mätzli Rüerenzumph, dem bäurischen Liebespaar aus Lappenhausen, das höfische Lebensform imitieren will und dabei grandios scheitert: ein zweispaltiger Pergamentcodex mit einer einzigen, stilistisch bescheidenen, ikonographisch jedoch eher unüblichen Illustration.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Besitz der Herzöge von Sachsen-Meiningen, 1946 vor dem Abtransport in die Sowjetunion gerettet und bis zum Inkrafttreten des Ausgleichsleistungsgesetzes 1994 im Meininger Staatsarchiv verwahrt, konnte nun dieser außergewöhnliche Zeuge eines außergewöhnlichen Texts von der Bayerischen Staatsbibliothek – mit tatkräftiger Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Bayerischen Landesstiftung und des Bundes – erworben werden. 

Diese Vermehrung des Bestands an mittelalterlichen Handschriften gab Anlass, einem breiteren Publikum den Blick zu gestatten auf einige der spektakulärsten, gewöhnlich im Tresor schlummernden Überlieferungszeugen deutscher Literatur des Mittelalters: 33 exemplarische Handschriften, durchweg Gipfelwerke, bieten sich im gedämpften Licht der Schatzkammer dem Auge des Betrachters, – ein beeindruckender Querschnitt durch die deutsche Literatur vom Früh- bis ins Spätmittelalter,darunter solche Zimelien wie das „Wessobrunner Gebet“ und der „Heliand“ aus dem 9. oder der Freisinger Codex von Otfrids von Weißenburg „Evangelienharmonie“ vom Anfang des 10. Jahrhunderts, das „Nibelungenlied“ oder die legendäre Handschrift der „Carmina burana“, über die der vorbildliche Katalog ausführlich informiert.

Mittelalterliche volkssprachliche Literatur, so zeigt diese Ausstellung, wurde nicht allein als Text, sondern auch ikonographisch ans Publikum vermittelt. Die Gleichberechtigung von Bild- und Textmedium als Informationsinstanzen ist keineswegs eine Errungenschaft unseres medialen Zeitalters; schon die mittelalterliche Handschrift setzt auf die Deutungsmöglichkeiten beider Medien, wie die preziösen, oberitalienisch beeinflussten Miniaturen im „Jüngeren Titurel“ zeigen, oder die 1455 von dem Augsburger Ratsherrn Hector Mülich in seine Handschrift der Alexanderdichtung des Münchner Hofarztes Johannes Hartlieb eingefügten Federzeichnungen, die den Lektürehorizont in die eigene Gegenwart überführen: Alexander findet das Denkmal seines Vaters nicht, wie im Text, in Ägypten, sondern vor dem Augsburger Rathaus.

Die den Textspalten zugeordneten, in Zeilen gegliederten Bildspalten der „Willehalm“-Fragmente von etwa 1275, die wie ein aus Schriftzeichen komponierter Text „gelesen“ werden müssen, zitieren sogar die Vortragssituation mittelalterlicher Epik herbei. Mit beiden Händen auf die Figuren seiner Erzählung verweisend, steht der Erzähler mitten in der Illustration: Im Bildmedium materialisiert sich die flüchtige Mündlichkeit der Aufführung, in der der geschriebene Text immer wieder neu entsteht.

Bayerische Staatsbibliothek
Ludwigstraße 16,
bis 24.8.2003
täglich 10-17 Uhr, donnerstags bis 19 Uhr.
Katalog 12 Euro. 

Aus: Süddeutsche Zeitung vom 6.6.2003 

Fotos von Ignaz Böckenhoff

Raesfeld (lwl). Ignaz Böckenhoff (1911-1994) war ein Außenseiter, unverheiratet, geschäftlich unbegabt und beruflich erfolglos. Aber er war ein großartiger Fotograf. Über 50 Jahre lang hat er fotografiert fast ausschließlich in Raesfeld und fast immer waren Menschen seine Motive. Auf diese Weise entstand ab 1930 ein einmaliges Ortsporträt, das für das ländliche Leben ganz Westfalen-Lippes repräsentativ ist. Die 40 schönsten dieser Bilder zeigt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) gemeinsam mit der Gemeinde Raesfeld noch bis zum 6. Juni 2003 in einer Ausstellung im Raesfelder Rathaus, die anschließend auf Wanderschaft durch Nordrhein-Westfalen geht. Sie wird beim Sponsor des Ausstellungsprojektes, den Volksbanken und Raiffeisenbanken in Rheinland und in Westfalen, zu sehen sein. Außerdem präsentiert die Gemeinde Raesfeld unter der Adresse www.fotosammlung-boeckenhoff.raesfeld.de rund 1.400 weitere Fotos im Internet.

Böckenhoff war nicht Fotoreporter, sondern Chronist. Seine Bilder spiegeln mehr als jede andere Quelle das Leben auf dem Land, seine traditionelle Gesellschaftsordnung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wider, urteilt Dr. Volker Jakob, Leiter des LWL-Bild-, Film- und Tonarchivs. Böckenhoff dokumentierte Altes wie Neues, im Aussterben begriffene Berufe, den Wandel in der Landwirtschaft, die kleinindustrielle Produktion der örtlichen Betriebe, all dies immer mit einem Gespür für den richtigen Augenblick einer Aufnahme. Dabei haben die Bilder einen besonderen Charakter: Weil alle fotografierten Menschen den Dorfchronisten kannten, verstellten sie sich nicht, ließen ihn ganz nah an sich drankommen , so Jakob. Die zweite Hälfte der 1930er und 1940er Jahre waren für Böckenhoff in fotografischer Hinsicht besonders fruchtbar. Er dokumentierte mit seinen Kameras die schleichenden politischen Veränderungen, die zunehmende Ideologisierung und Militarisierung des dörflichen Lebens. In dieser Zeit sind seine stärksten Aufnahmen entstanden, nicht nur zeitgeschichtliche Dokumente, sondern ein intimes, persönliches Zeugnis seiner Umwelt. Insgesamt hinterließ Böckenhoff 80.000 Negative. Um diesen westfalenweit einzigartigen Fotoschatz zu heben, wandte sich die Gemeinde Raesfeld, die den Nachlass 1994 erworben hat, an den LWL, dessen Westfälisches Landesmedienzentrum Kommunen und Heimatvereine berät. In einem zweijährigen Projekt erschloss und archivierte die Kunsthistorikerin Dr. Ruth Goebel die Negative. 1400 fotogeschichtlich besonders bedeutsame Bilder digitalisierte sie. Die Gemeinde Raesfeld hat in Zusammenarbeit mit dem LWL-Landesmedienzentrum einen Internetauftritt erarbeitet, der diese Bilder jetzt für Interessierte zugänglich macht. Außerdem stellt die Seite www.fotosammlung-boeckenhoff.raesfeld.de das Werk des Fotografen und die Geschichte seines Heimatdorfes vor.

Die Geschichte dieses Projektes zeigt einmal mehr, dass erfolgreiche Kulturarbeit immer das Ergebnis von Kooperationen ist. Das, was der Einzelne nicht zu leisten vermag, gelingt im Miteinander. Und genau dies ist die Maxime, die sich der LWL in der Kulturpflege zu eigen macht: Dort helfend einzugreifen, wo Hilfe notwendig ist , so Dr. Markus Köster, Leiter des Landesmedienzentrums, bei der Ausstellungseröffnung.

Aus den aussagekräftigsten Fotos hat das LWL-Landesmedienzentrum einen Bildband zusammengestellt: Menschen vom Lande. Ignaz Böckenhoff. Herausgegeben von Volker Jakob und Ruth Goebel, Essen, Klartext-Verlag 2002, ISBN 3-89861-149-3, 19,95 Euro. Für Fotoliebhaber haben die LWL-Medienexperten unter dem gleichen Titel eine fünf Handabzüge umfassende und auf 50 nummerierte Exemplare limitierte Fotoedition herausgegeben, die beim Westfälischen Landesmedienzentrum unter der Tel. 0251/591-4719 (Frau Fleege) für 150 Euro erhältlich ist.

Die nächsten Stationen:
Volksbank Heiden 2. Juni bis 27. Juni 2003 (Kreis Borken) Volksbank Selm-Bork 1. bis 31. Juli 2003 (Kreis Unna) Volksbank Delbrück 19. September bis 26. Oktober 2003 (Kreis Paderborn) Volksbank Bad Driburg-Brakel-Steinheim
3. bis 30. November 2003 (Kreis Höxter) Volksbank Anröchte 8. Dezember 2003 bis 4. Januar 2004 (Kreis Soest) Volksbank Halle 12. Januar bis 8. Februar 2004 (Kreis Gütersloh) Volksbank Ochtrup 16. Februar bis 14. März 2004 (Kreis Steinfurt) Volksbank Dorsten 15. März bis 18. April 2004 (Kreis Recklinghausen) Volksbank Bad Oeynhausen-Herford 31. Mai bis 27. Juni 2004.

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