Sprengstoff! im Westfälischen Industriemuseum Zeche Nachtigall

Am Abend des 28. November 1906 brach im Mischgebäude der Wittener Roburit-Fabrik ein Feuer aus. Kurze Zeit später erschütterten zwei gewaltige Explosionen den Stadtteil. Die Fabrik, die ausgerechnet Sicherheitssprengstoffe für den Bergbau herstellte, flog in die Luft. 41 Menschen kamen ums Leben, mehrere hundert wurden verletzt und über 2000 obdachlos. Wie kann der als sicher geltende Sprengstoff Roburit, seit zwanzig Jahren erfolgreich im Bergbau eingesetzt, ohne Zünder explodieren? Ein Anschlag? Menschliches Versagen? Illegale Machenschaften der Fabrik? Die Verantwortlichen der Firma, Staatsanwaltschaft und Sachverständige stehen vor einem Rätsel. Zugleich fragt man sich: Warum ist eine solche Fabrik in einem Wohngebiet errichtet und betrieben worden?

100 Jahre später erinnert der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in seinem Westfälischen Industriemuseum Zeche Nachtigall mit der Ausstellung „Sprengstoff!“ (24.9.06 – 28.1.07) an diese technische Katastrophe, die im gesamten Deutschen Reich Bestürzung auslöste. Über 120 Exponate, die in direktem Zusammenhang mit dem Unglück stehen, hat das Ausstellungsteam zusammengetragen und in Szene gesetzt; mehr als die Hälfte davon sind Leihgaben. Die größte unter ihnen ist die Annener Feuerglocke, die damals die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr zum Einsatz rief. Unmittelbare Eindrücke aus der Zeit der Katastrophe vermitteln mehr als 40 Ansichtspostkarten vom Unglücksort sowie Plakate mit Hilfsangeboten. Zentrales Exponat ist ein repräsentatives Fotoalbum der Fabrikbesitzer aus dem Jahr 1903, in das später Unglücksfotos eingeklebt wurden. Jahre nach der Explosion gelangte es in den Besitz des Polizisten und Unglücksopfers Ludwig Wahl. Sein Gehör wurde durch die enorme Druckwelle schwer geschädigt, und er erhielt 1909 eines der ersten Hörgeräte, die es auf dem Markt gab. Die Kosten von 90 Mark wurden aus den reichsweit gesammelten Spendengeldern erstattet. „Die Geschichte von Ludwig Wahl ist ein typisches Beispiel dafür, wie wir den Blick in der Ausstellung immer wieder auf einzelne Menschen lenken“, so Ingrid Telsemeyer.

Einen anschaulichen Eindruck von Größe und Lage der Fabrik vermittelt ein Modell, das in den Werkstätten des LWL-Industriemuseums nach historischen Plänen und Fotografien gebaut wurde. Feuerwehr- und Polizeiutensilien, medizinische Hilfsmittel wie Krücken und Beinprothesen, historische Fotografien und andere Dokumente ergänzen die Schilderungen von Zeitzeugen. Über Hörstationen vermitteln sie einen lebendigen Eindruck vom Verlauf des Unglücks und von den Debatten um die Ursache und die juristische und moralische Schuld. Medien-Stationen regen zum Nachdenken über die eigene Einstellung zum Thema an. Das umfangreiche Begleitprogramm (s.u.) reicht von Vorträgen über Sicherheitstrainings mit der Feuerwehr Witten bis zu einer Tagung.

Die Ausstellung beschränkt sich aber nicht auf die Katastrophe allein. „Wir nehmen auch die gesellschaftlichen Reaktionen auf das Unglück in den Blick“, betont Ingrid Telsemeyer. Unter den Überschriften „Sensation und Solidarität“ sowie „Erinnern und Vergessen“ geht es um die Zeitungsberichterstattung zum Unglück, um Angst, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft der Menschen sowie die Aufarbeitung des Falls durch die Gerichte bis hin zur späteren Erinnerungskultur.

„Zu den Jahrestagen war das Unglück in Witten immer wieder präsent. Heute erinnert in Witten nur noch wenig an das große Unglück. Jetzt nach 100 Jahren wurde die Katastrophe für die Ausstellung erstmals gründlich erforscht“, erläutert Dr. Martina Kliner-Fruck, Leiterin des Stadtarchivs Witten, das zahlreiche Dokumente zur Ausstellung beisteuerte. Das Stadtarchiv, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund sowie der Geschichtsverein Annen sind Kooperationspartner des Projektes. Am Ende zieht die Schau auch Parallelen zur heutigen Katastrophenbewältigung und den nach wie vor vorhandenen Risiken der industriellen Produktion. Unter dem Titel Sprengstoff! erscheint eine Begleitpublikation zur Ausstellung, die die dort angesprochenen Themen, über das lokale Beispiel hinausgehend vertieft.

Begleitprogramm:

So, 24.9. Eröffnung: 12 – 18 Uhr Die Feuerwehr der Stadt Witten mit dem Infomobil und einem Löschfahrzeug; Vorstellung der Jugendfeuerwehr; 14 Uhr: Offizielle Eröffnung der Ausstellung; ab 15 Uhr freie Ausstellungsbesichtigung

Vorträge im Westfälisches Industriemuseum Zeche Nachtigall

Mi, 27.9.06 19.30 Uhr: „Nur drei Arbeiter machten einen gesunden Eindruck …“ Die Roburit-Fabrik in Witten 1886–1906. Von Dr. Frank Ahland, Historiker & Publizist, Witten, und Stefan Nies, Historiker, Dortmund

Mi, 15.11. 19.30 Uhr: Vom Schwarzpulver zum Sicherheitssprengstoff. Von Dr. Ralf Zimmermann, Holzwickede 

Mi, 22.11.06 19.30 Uhr: Der Mensch ist immer schuld! – Wie menschlich ist „menschliches Versagen“? Von Dr. Karl-Ernst Poppendick, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund

Di, 28.11.06 19.30 Uhr: Analyse von Unfällen beim Umgang mit Sprengstoff. Von Dr. Thomas Lehmann, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, Berlin

Mi, 10.1.07 19.30 Uhr: Die Produktion und Sicherheit des Wettersprengstoffs Roburit heute. Von Dr. Burkhard Eulering WASAG Chemie Sythen, Haltern

Vorträge an anderen Orten

Mi, 25.10.06 19 Uhr: „Ganz Annen liegt sozusagen in einem Trümmerhaufen“. Die Explosion der Roburit-Fabrik und ihre Folgen für Annen. Dr. Frank Ahland, Historiker & Publizist, und Stefan Nies, Historiker, Haus Witten, Ruhrstraße

Mi, 17.1.07 ab 18 Uhr: 12. Wittener Archivforum mit Führung durch die Feuer- und Rettungswache Witten, Dortmunder Straße (18 Uhr) und Vortrag (19 Uhr): \“… mindestens die moralische Verpflichtung des Staates …\“ – Konsequenzen aus der Roburit-Explosion vom 28.11.1906 in Witten, von Dr. Frank Ahland, Witten und Stefan Nies, Dortmund, Vortragsraum der Feuerwehr

Fr, 19.1.07 10-18 Uhr: Jahrestagung des Vereins Historikerinnen und Historiker vor Ort: Thema: „Gott sei Dank ist Dortmund noch eben verschont geblieben …\“ Vom Umgang mit industriellen Risiken vor Ort. Infos unter www.historiker-vor-ort.de

Außerdem: Sicherheits-Training für Kinder und Erwachsene mit der Feuerwehr Witten (Anmeldung erforderlich)

– Brandschutz mit „Fridolin Brenzlich“ max. 15 Kinder

– Sicherheits- und Brandschutztraining für max. 30 Erwachsene

Termine: 05.11.2006 15 – 17 Uhr; 26.11.2006 15 – 17 Uhr; 07.01.2007 11 – 13 Uhr

Gruppenführungen: Auf den Spuren der Roburit-Katastrophe unterwegs (Gruppenführung auf Anfrage)

Kontakt:
Westfälisches Industriemuseum
Zeche Nachtigall
Nachtigallstraße 35
58452 Witten-Bommern
Sekretariat: Raphaela Klages
Telefon: 02302 93664-0
Telefax: 02302 93664-22
Zeche-Nachtigall@lwl.org

Quelle: Pressemitteilung Stadt Witten, 22.9.2006; Sonderausstellung: Sprengstoff!. Die Explosion der Wittener Roburit-Fabrik 1906.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.