»Erst habe ich mich unheimlich klein und verloren gefühlt…« – Jugendliche Spurensucher im Archiv

Am 1. September 2006 hat der neue Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten für alle unter 21-Jährigen begonnen (Pressemitteilung 1.9.2006). Unter der Überschrift \“miteinander – gegeneinander? Jung und Alt in der Geschichte\“ geht es in diesem Jahr um ein zentrales Thema unserer Gesellschaft: um das Zusammenleben der Generationen. Bundespräsident Horst Köhler weist in seinem Aufruf zum Geschichtswettbewerb 2006/2007 darauf hin, dass wir heute in den meisten Lebensphasen Freiheiten haben, die bis vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbar waren: \“Kinder und Jugendliche wachsen als gleichberechtigte Familienmitglieder auf, Erwachsene entscheiden, ob und wie sie Familie und Beruf miteinander vereinbaren, die gestiegene Lebenserwartung ermöglicht es vielen Menschen, ihr Alter länger und aktiver zu genießen.\“ Dabei zeige die Beschäftigung mit der Vergangenheit aber ganz deutlich, dass die Generationenbeziehungen immer in Fluss waren. \“Werte und Haltungen, Hierarchien und Abhängigkeiten, Hoffnungen und Erwartungen mussten miteinander in Einklang gebracht werden, und das war nicht immer leicht. Doch wenn es gelang, dann ruhte die Gemeinschaft auf sicherem Fundament.\“ 

Der Bundespräsident zeigt sich gewiss, dass die Kinder und Jugendlichen, die sich am diesjährigen Geschichtswettbewerb mit eigenen Beiträgen beteiligen, auch in den Archiven, Museen und Verwaltungen Rat und Hilfe für ihre Projekte finden. Einsendeschluss der Einzel- oder Gruppenarbeiten ist der 28. Februar 2007. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten wird von der Körber-Stiftung in Hamburg organisatorisch betreut. Auf dem 29. Hessischen Archivtag, der am 13. Juni 2006 in Limburg stattfand, stellte Katja Fausser, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung, den Wettbewerb und die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den Archiven vor. Ihr Vortrag ist im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben:

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„Erst habe ich mich unheimlich klein und verloren gefühlt“: Das Zitat stammt aus dem Arbeitsbericht einer 18jährigen Gymnasiastin, die dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ihre ersten Kontakt mit einem Archiv verdankte. Ich habe es ausgewählt, weil ich Sie mitnehmen möchte auf die Augenhöhe der jugendlichen Spurensucher beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Im Rahmen ihrer lokalgeschichtlichen Forschungen planen viele einen Archivbesuch, und häufig führen sie ihn auch tatsächlich durch. Das Archiv stellt sich ihnen als fremde Institution mit anfangs unbekannten Regeln und Gepflogenheiten dar, die sie sich mühsam und mit viel Neugier, Mut und Entschlossenheit erschließen müssen. Doch damit eine Archivrecherche von Schülern erfolgreich verläuft, sind viele Faktoren nötig, zu denen ich im Verlauf meines Vortrags von kommen werde.

Zunächst möchte ich Ihnen jedoch kurz erstens den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten vorstellen und auf die Motive eingehen, warum wir seit über 30 Jahren forschendes Lernen von Schülern auch in Archiven fördern. Anschließend möchte ich Ihnen zweitens darstellen, wie sich Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in Archiven in ihren Arbeitsberichten spiegeln. Drittens möchte ich Ihnen berichten, welche Aktivitäten der Geschichtswettbewerb entfaltet, um mehr Schüler und Lehrer zu Erfolgserlebnissen im Archiv zu verhelfen. In einem vierten Teil komme ich darauf zu sprechen, wie sich die Zusammenarbeit zwischen Archiv und Schule aus Sicht des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten darstellt und welche Perspektiven aus unserer Sicht für die Zusammenarbeit bestehen. Und dann bin ich neugierig auf den Austausch mit Ihnen, auf Ihre Erfahrungen mit Lehrern und Schülern, auf Ihre Anregungen und Rückmeldungen auf unsere Arbeit und unsere Vorstellungen. Ich hoffe, dass wir im Anschluss an meinen kleinen Vortrag miteinander ins Gespräch kommen werden. 

1. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Doch zuerst möchte ich Ihnen den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten kurz vorstellen: Seit 1973 finanziert und organisiert die Körber-Stiftung den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Der Wettbewerb ist eine Gemeinschaftsaktion des Bundespräsidialamts und der Körber-Stiftung. Am 1. September startet die 20. Ausschreibungen des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, teilnehmen können Kinder und Jugendliche bis 21 Jahren: Grundschüler, Haupt-, Realschüler, Gymnasiasten, Auszubildende, Wehrpflichtige oder junge Studierende. Sie gehen an ihrem Ort und in ihrer Familie auf Spurensuche, einzeln, in Gruppen oder zusammen mit der ganzen Klasse. Passend zum Rahmenthema der Ausschreibung stellen sie eigene Fragen an die Vergangenheit vor ihrer Haustür und versuchen, diese mit Hilfe von Literatur, den Erinnerung von Zeitzeugen und überliefertem Quellenmaterial zu beantworten. Seit der Gründung des Wettbewerbs 1973 haben über 110.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Geschichtswettbewerb zur größten historischen Laienforschungsbewegung etabliert. Im Schnitt beteiligen sich alle zwei Jahre 6.000 Schülerinnen und Schüler mit 1.200 Beiträgen aus dem ganzen Bundesgebiet. Diese stammen etwa von 600-800 Tutoren aus etwa 500-800 Schulen. Seit der Gründung des Wettbewerbs durch den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und den Hamburger Unternehmer Kurt-A.-Körber hat sich der Wettbewerb folgenden Zielen verschrieben: dem Prinzip des forschenden Lernens, angewandt an der Erforschung der Lokalgeschichte, der Förderung des demokratischen Verständnisses der Kinder und Jugendlichen und der Förderung ihrer Selbstständigkeit und ihres Verantwortungsbewusstseins. Themen der Ausschreibung waren z.B. Alltag im Nationalsozialismus, Denkmäler, Umwelt hat Geschichte, Geschichte der Migration oder Arbeit. Die Anforderungen, die der Wettbewerb an die Teilnehmer stellt, sind hoch, das betrifft die Dauer des Projekts von bis zu sechs Monaten, die methodischen Anforderungen und die Erwartung an die Reflexion und Präsentation der Ergebnisse. Es ist jedoch nicht das Ziel des Wettbewerbs, alle Teilnehmer zu Historikern auszubilden, obwohl es sie gibt, die Teilnehmer, die inzwischen Geschichtsprofessoren geworden sind. Die Wettbewerbsteilnehmer haben neue Erkenntnisse zur Lokalgeschichte beigesteuert, Aspekte der Alltagsgeschichte gesichert und interpretiert und damit einen Beitrag zur Erinnerungskultur geleistet. 

Durch ihre eigenständige und weitgehend selbstorganisierte Spurensuche können Schülerinnen und Schüler aus erster Hand erkennen, wie viel mehr Geschichtsschreibung durch Interpretation und Deutung bestimmt wird als durch unwidersprochene Fakten. Ein Teilnehmer aus Mecklenburg-Vorpommern, der sich nach der Wende erfolgreich mit Aspekten der Geschichte der DDR auseinandergesetzt hat, hat es so ausgedrückt: „Im Rahmen meiner Nachforschungen zu meinen Wettbewerbsarbeiten war ich quasi gezwungen, mit mich der Vergangenheit und Gegenwart anderer Menschen zu befassen und am Ende auch Urteile zu fällen. Und das ist etwas völlig anderes, als im Geschichtsbuch nur von guten und von schlechten Menschen in der Vergangenheit zu lesen. Immer wieder ist es für mich äußerst spannend, wie aus Archivakten, die seit Jahrzehnten keiner mehr gesichtet hat, längst verwehte Biografien auferstehen“. Es sind diese Rückmeldungen, die zeigen, dass die anspruchsvollen Herausforderungen, die die Wettbewerbsgründer Kindern und Jugendlichen seit der ersten Ausschreibung des Wettbewerbs stellen, von vielen erfolgreich angenommen und bewältigt werden. 

2. Erfahrungen von Jugendlichen im Archiv im Spiegel ihrer Arbeitsberichte 

Aber bis zum erfolgreichen Abschluss einer Spurensuche ist es ein langer Weg, der in vielen Fällen auch über ein Archiv führt. Bei der historischen Spurensuche nehmen Archive als Bewahrer eines bedeutenden Teils des kulturellen Erbes eine herausragende Stellung ein. Im Rahmen ihrer Forschungen haben viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Schwelle eines kommunalen, staatlichen, kirchlichem oder privaten Archiv erstmalig überschritten. Bei einigen Schülern und Lehrern, die sich vielleicht auch mehrfach am Wettbewerb beteiligen, erweitert sich das historische Fachwissen zur Regionalgeschichte wie die methodischen Fähigkeiten rund um die Archivarbeit enorm. Wie weit das führen kann, zeigt das Beispiel einer Schülerin aus Gladbeck, die sich seit ihrem 12. Lebensjahr dreimal erfolgreich am Geschichtswettbewerb beteiligt hat. Inzwischen nimmt sie an einem Pilotprojekt der Universität Münster teil, die Schüler zu Seminaren zulässt, wo sie reguläre Scheine schon vor Erreichen des Abiturs erwerben können, indem sie nach der Schule an Universitätsveranstaltungen teilnehmen. Die Schülerin ist im Alter von 16 Jahren zu dem Projekt gestoßen. Jetzt, mit 18, steht sie vor der Zwischenprüfung und sagt von sich, dass sie sich durch ihre Erfahrungen beim Wettbewerb bei der Archivarbeit besser auskenne als mancher ältere Student. Das sind Ausnahmeerscheinungen, allerdings bedeutet eine erfolgreiche Teilnahme am Geschichtswettbewerb für alle Teilnehmer, die die Herauforderungen des Wettbewerbs annehmen und sich ernsthaft auf die Arbeit mit historischen Quellen einlassen, einen Zugewinn an faktischem wie an methodischem Wissen. 

Die Hemmschwelle für Schüler – und manchmal auf für Lehrerinnen und Lehrer –, eine Archivnutzung zu erwägen, sind erstmal hoch. Die wenigsten Schüler haben eine genaue Vorstellung von den Beständen eines Archivs, von den Rahmenbedingungen für die Überlieferung, von den Aufgaben und der Arbeitsweise von Archivarinnen und Archiven, geschweige denn haben sie bisher einen Lesesaal von innen gesehen. Es sind manchmal Kleinigkeiten, die abschrecken und Anforderungen an den Mut der Jugendlichen und ihren Willen zur Informationsgewinnung stellen: Häufig muss man klingeln, um eingelassen zu werden, ist mit einer fremden Umgebung mit neuen Verhaltensregeln konfrontiert, die alle anwesenden Besucher scheinbar perfekt beherrschen. Eine rein logistische Schwierigkeit bei einem Archivbesuch sind die Öffnungszeiten vieler Archive, die gerade bei Ganztagsschülern intensive Besuche außerhalb der Schulzeit ohne Entgegenkommen der Schulleitung unmöglich machen. Mangelndes Wissen reduziert das Verständnis für regulierte Aushebezeiten, für Kopierverbote oder lange Fristen bei der Erledingung von Fotoarbeiten. Diese eher praktischen Hindernissen wiegen für Kinder und Jugendliche schwerer – mit erwachsenen Archivnutzern teilen sie die Schwierigkeit, ohne Kenntnisse der historischen Verwaltungsstrukturen, der Aktenentstehung und -überlieferung dem Material ohne fachliche Beratung ausgeliefert zu sein, wenn man ohne dieses Wissen überhaupt fündig geworden ist. Aber über diese Schwierigkeiten brauche ich vor diesem Kreis nicht weiter zu sprechen. 

Und welche Erfahrungen die Jugendlichen wie die Archivmitarbeiter dort machen, und ob ein Besuch erfolgreich verläuft, das hängt von vielen Faktoren ab. Der Arbeitsbericht eines Giessener Schülers, der beim letzten Wettbewerb zu Arbeit in der Geschichte einen zweiten Platz errang, gibt uns einen plastischen Eindruck in seine Vorgehensweise: „Zuerst wollte ich über eine in unserer Nachbarstadt angesiedelte Metallfirma und deren Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg schreiben. Allerdings hieß der zuständige Archivar keine Schüler willkommen.“ Später in seinem Arbeitsbericht schreibt er: „Die zweite Ferienwoche galt dem Staatsarchiv Darmstadt. Sofort am Montag ging es mit dem Zug in Hessens Süden. Eigentlich wollte ursprünglich mein Tutor mitfahren, um mich in die Geheimnisse des Archivarbeitens einzuweihen. Daraus wurde nichts, weil ihn eine Erkältung daran hinderte… Um 10 Uhr machte ich mich auf den Weg zum Archivs – es war bald gefunden. Nachdem einige Missverständnisse aufgrund meiner Vorstellungen geklärt waren, begann mein Arbeitstag im Archiv. Vor mir stand mein Laptop, beidseitig umrahmt von riesigen Aktenstapeln. Nach sechs Stunden verließ ich das altehrwürdige Gebäude. Ich war weder zufrieden noch unzufrieden mit meiner Arbeit. Ich musste mir eingestehen, dass ich hilflos überfordert gewesen war, die zahlreichen Quellentexte zu übersetzen, die alle in Sütterlin oder Altdeutsch verfasst waren. (…) Beim nächsten Besuch nahm ich meine Großmutter mit, die mir beim Transkribieren tapfer zur Seite stand.“

Einige Stichworte aus dem Bericht des Schülers möchte ich gerne aufgreifen. Beginnen möchte ich mit der Erwähnung von Vorbehalten eines lokalen Archivars gegenüber Jugendlicher als Spurensucher: Mehr als diese Bemerkung kenne ich über das in diesem Fall konkret Vorgefallene nicht. Anders als in den ersten Jahren nach der Gründung des Geschichtswettbewerbs sind Schüler im Archiv jedoch längst nicht mehr so exotisch wie damals: In den frühen 1980er Jahren erreichte uns z.B. folgender Brief eines Archivars, der beklagt, „dass die leider immer wiederkehrende Aktion (gemeint ist der Geschichtswettbewerb) mehr auf öffentlichen Applaus als auf ein sinnvolles Heranführen junger Leute an die Geschichte angelegt ist: Das vom einzelnen Teilnehmer erreichbare Teilwissen kann nur zu Vorurteilen und damit zur Halbbildung führen, womit niemandem gediehen ist.“ Briefe aus Archiven, die uns ihre Ablehnung so eindeutig mitteilen, haben wir lange nicht mehr bekommen. Allerdings lassen bis heute Arbeitsberichte erkennen, dass besonders da, wo Jugendliche zu den Pionieren am Ort gehören und sich somit als eine der ersten in ein lokales Archiv begeben, nicht nur Reibungen, sondern grundsätzliche Vorbehalte die Neugier und den Wissensdrang der Jugendlichen erschweren und ihr Vorstoß, mit Archivmaterial zu arbeiten, scheitert. Dass zu einem Misserfolg wie dem vom Schüler beschriebenen immer mehrere Faktoren beitragen, die auch in dem vorliegenden Fall nicht notwendigerweise ausschließlich auf Seiten des Archiv zu finden sind, ist anzunehmen. Aber, wie ich Ihnen anfangs angekündigt habe, möchte ich Ihnen an dieser Stelle vornehmlich von den Erfahrungen der Jugendlichen im Archiv aus deren Perspektive berichten.

Als nächstes möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen weiteren Punkt aus dem Bericht des Schülers hinter mir lenken: Die Tatsache, dass der Schüler den ersten Besuch eigentlich mit seinem Tutor absolvieren wollte. Das bringt uns zu einer ganz wichtigen Person: Dem Lehrer bzw. der Lehrerin. Als Moderator und Berater in methodischen Fragen sind die Pädagogen für den Geschichtswettbewerb der Dreh- und Angelpunkt. In der Regel werden über 80% der Beiträge beim Geschichtswettbewerb von Lehrern betreut. Im optimalen Fall beraten sie bei der Themenfindung und bereiten ihre Schüler auf Gespräche mit Experten oder Zeitzeugen ebenso vor wie auf einen etwaigen Archivbesuch. Anfang April haben sich in Hamburg bei der Körber-Stiftung Multiplikatoren des Geschichtswettbewerbs getroffen, um sich über Aktivitäten in den Bundesländern auszutauschen, die den Wettbewerb regional stärken. Es waren auch viele Archivmitarbeiter darunter, und ich erinnere mich noch gut an die genervten Berichte über Lehrer, die mit ihrer gesamte Schulklasse ins Archiv kamen, den Besuch weder mit dem Archiv inhaltlich vorbereitet hatten noch im Unterricht Arbeitsaufträge, Leitfragen für den Besuch oder ähnliches vorbereitet hatten. Sie lieferten ihre Schüler lediglich bei den Mitarbeiten ab, und nachmittags wunderten sie sich darüber, dass die Stimmung so schlecht war. Wenn es auch Unwissenheit und kein böser Wille war, ein solcher Besuch muss ein Fehlschlag werden. 

3. Hilfestellungen des Geschichtswettbewerbs bei der Archivarbeit

Im folgenden möchte ich Ihnen die Hilfestellungen vorstellen, die wir als Wettbewerbsorganisatoren Lehrern und Schülern an die Hand geben, um sie besser auf eine Archivrecherche vorzubereiten. 

Seit 1993 bieten wir zu jedem Wettbewerbsstart mehrtägige Fortbildungsveranstaltungen sowie eintägige Auftaktveranstaltungen für Lehrerinnen und Lehrer an. Dort stellen Tutoren und Juroren den Wettbewerb und seine Ausschreibungsbedingungen vor. Die Workshops enthalten praktische Übungen zur Themenfindung und haben zudem einen methodischen Schwerpunkt. Dieser besteht entweder in der Archivarbeit mit Schülerinnen und Schülern oder im Zeitzeugeninterview durch Kinder und Jugendliche. Diese Einheiten werden in Zusammenarbeit mit Archiven aus der Region durchgeführt. Häufige Elemente dieser Einheiten sind eine Führung durch ein Archiv, da nicht jede Lehrerin bzw. jeder Lehrer während seines Studiums Kontakt mit dieser Institution gehabt hat. Diese Fortbildungen sind praxisnah angelegt. Da heißt, die Pädagogen arbeiten wie ihre Schülerinnen und Schüler später im Wettbewerb an ausgewählten Quellen, die thematisch einschlägig sind und vom Archiv für Gruppenarbeiten vorbereitet wurden. So machen die Lehrerinnen und Lehrer Erfahrungen mit Findbucharbeit, erleben beispielhaft die Faszination von authentischem Quellenmaterial, die Lückenhaftigkeit von Aktenmaterial. Viele Grundsätze der Archivarbeit, z.B. mit dem Quellenstudium erst dann zu beginnen, wenn man die einschlägige Literatur zum Thema bereits kennt, sind besonders einleuchtend und einprägsam, wenn sie sich aus eigenen Erfahrungen speisen können. All diese Erfahrungen, die die Lehrerinnen und Lehrer selber gemacht haben, können sie dann an ihre Schülerinnen und Schüler weiter geben und sie so auf die Arbeit im Archiv vorbereiten.

Parallel bieten wir Workshops für Schülerinnen und Schüler an, die sich am aktuellen Wettbewerb beteiligen möchten – in diesem Herbst werden wieder mindestens 100 Plätze in vier Workshops sein. Aufbau und Themenschwerpunkt sind analog zu denen der Lehrerworkshops, auch hier beschäftigen wir uns mit den Anforderungen des Wettbewerbs, mit Kriterien für ein gutes Wettbewerbsthema, mit dem Vorgehen im Archiv und beim Zeitzeugeninterview.

Zusätzlich zu diesen Schulungen haben wir im letzten Jahr den „Spurensucher“ neu aufgelegt. Dieses Praxisbuch zur historischen Projektarbeit ist von Autoren verfasst, die langjährige Erfahrungen mit den Chancen und Tücken der Erforschung der Lokalgeschichte mit Jugendlichen haben. Die Artikel zur Archivarbeit von Günther Rohdenburg, der jahrzehntelang als Archivpädagoge im Staatsarchiv Bremen gearbeitet hat, enthält Checklisten und viele praktische Tipps und stellt mit seinen 20 Seiten eine kompakte Handreichung für Jugendliche im Archiv dar. Auch im Internet bieten wir eines unserer so genannten Methodenblätter zur Archivarbeit an. Mehr dazu können Sie bei Interesse unter www.geschichtswettbewerb.de und dem Stichwort Unterricht erfahren. 

4. Perspektiven der Zusammenarbeit von Wettbewerb, Schulen und Archiv

Wir wünschen uns, dass wir noch intensiver nach gemeinsamen Interessen des Geschichtswettbewerbs und von Archiven suchen. Einige Archive haben Jugendliche als interessante Zielgruppe entdeckt: Es sind die Archivnutzer von morgen, sie stellen besonders dort eine neue und attraktive Zielgruppe dar, wo die Arbeit und Bedeutung der Institution Archiv auch an Besucherstatistiken, Medienresonanz oder erfolgten Kooperationen gemessen wird. Die gewachsene Zusammenarbeit zwischen Schulen und Archiven hat an vielen Orten zu vertrauensvoller Partnerschaft geführt und damit zu einem Stamm an gut informierten Tutorinnen und Tutoren, an besser vorbereiteten Schülern, die einige Anfängerfehler vermeiden und so weniger durch den Archivalltag poltern. Aus solchen Kooperationen sind häufig qualitativ gute Wettbewerbsarbeiten entstanden, die auch von der Jury des GW ausgezeichnet worden sind. Einige Archive haben dann mit diesem Pfund gewuchert, indem sie z.B. eigene Pressearbeit gemacht haben, bei der der Anteil des Archivs mit seinen wertvollen Quellen an der Entstehung der Arbeit im Mittelpunkt stand, so dass das Archiv auch etwas von der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Preisträger abbekam. Manchmal wurden Auszüge aus Schülerarbeiten veröffentlicht oder Teile der Arbeiten ausgestellt. In den letzten Jahren hat die Zahl der lokalen Würdigungen von guten Arbeiten aus der Region zugenommen – manche Archive haben es verstanden, die positive Aufmerksamkeit für sich zu nutzen. 

Einige Archive haben sich bei vergangenen Wettbewerben auf das neue Wettbewerbsthema vorbereitet, indem sie zum Wettbewerbsstart einen eigenen Pressetext veröffentlichten, der auf lokale Bestände und Themen aus der Region aufmerksam macht. Dazu haben sie ihre Findbücher im Vorfeld auf möglicherweise einschlägige Bestände hin untersucht haben (häufig durch die tatkräftige Unterstützung von Jahrespraktikanten, Auszubildenden oder studentischen Hilfskräften). Das Ergebnis ihrer Sichtung haben sie nicht nur der Presse, sondern als Kopiervorlage im Lesesaal bzw. im Internet auch interessierten Schülerinnen und Lehrern zugänglich gemacht. Um eine solche Art der Vorbereitung zu ermöglichen, teilen wir allen Archiven als wichtigen Multiplikatoren das nächste Wettbewerbsthema vertraulich bereits einige Monate vor dem offiziellen Wettbewerbsstart mit. 

Wir wissen, wie wichtig eine gute lokale Vernetzung zwischen Geschichtsvereinen, Archiven und aktiven Schulen und Lehrern in der Region ist. So sind wir in diesem Jahr erstmals in der Lage, neben den von Hamburg aus organisierten Fortbildungen in Zusammenarbeit mit unseren Multiplikatoren insgesamt fast 40 Lehrer- und Schülerfortbildungen zur historischen Projektarbeit anzubieten, die dezentral in 15 Bundesländern organisiert werden – viele davon in Kooperation mit lokalen Archiven. Eine Liste der geplanten Veranstaltungen finden Sie unter www.geschichtswettbewerb.de.

5. Ausblick

Zur Situation der Archive in Hessen habe ich heute Vormittag bereits einiges dazu gelernt. Mit Sorge beobachten wir bei der Körber-Stiftung die Sparopfer bei Archiven. Besonders betroffen sind wir beim Geschichtswettbewerb von der Streichung bzw. fehlenden Wiederbesetzung von Stellen für Archivpädagogik bzw. historische Projektarbeit. Aus unserer Kenntnis werden immer weniger Lehrerinnen und Lehrer an Archive abgeordnet, gleichzeitig beklagen viele Archivmitarbeiterinnen und -mitarbeiter die wachsende Zahl der Aufgaben bei sinkendem Personalschlüssel. Archivare, mit denen wir langjährige Kontakte haben, berichteten, wie sich in ihren Häusern der Sparzwang bereits auf die Qualität der Beratungsarbeit der Archivnutzer auswirkt – Schülerinnen und Schüler sind diejenigen Nutzer, die am stärksten auf intensive und fachkundige Beratung angewiesen sind. Das Fehlen von Archivpädagogen bzw. von Ansprechpartnern für die Benutzerinnen und Benutzer, die Zeit für Beratungsaufgaben haben, könnte vieles gefährden, was in Jahrzehnten an Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Institutionen aufgebaut wurde. Die Konsequenzen auch für den Geschichtswettbewerb können wir dabei noch nicht genau absehen. 

Aber es gibt auch interessante Entwicklungen, die vielleicht neue Möglichkeiten bieten für eine neue Form der Kooperation von Schule und Archiv. Die Bildungslandschaft in Deutschland ist ja nicht erst seit den PISA-Studien in Aufruhr. Dabei gibt es Tendenzen, die die Rahmenbedingungen für den Geschichtswettbewerb an den Schulen erschweren können, wie beispielsweise die vermehrte Einführung des Zentralabiturs oder des Abiturs nach zwölf Schuljahren, da beides den Spielraum der Lehrer für Projektarbeit einschränken könnte. Auch der Ausbau eines Ganztagsangebots an vielen Schulen kann die Möglichkeiten von Schülerinnen und Schüler zum eigenständigen Forschen erschweren – Archivbesuche von Schülerinnen und Schülern könnten beispielsweise mit einem offiziellen Schulschluss gegen 16.00 Uhr kollidieren. Gleichzeitig entsteht durch den Aufbau verschiedener Modelle von Ganztagsschulen bzw. Nachmittagsunterricht Bedarf nach neuen Konzepten, wie Kinder und Jugendliche diese zusätzliche Zeit verbringen sollen. Wir denken, dass z.B. eine Geschichts-AG, in der verschiedene Methoden der historischen Spurensuche wie Quelleninterpretation, Umgang und Interpretation von historischem Bildmaterial, Archivarbeit und das Gespräch mit Zeitzeugen und Experten für interessierte Kinder und Jugendliche tolle Chancen bieten würde, ihre Methodenkompetenz zu verbessern und sich im Rahmen der Schule intensiv und aktiv mit der Vergangenheit ihres eigenen Umfelds zu beschäftigen und einen Beitrag bei der Erforschung und Sicherung der Lokalgeschichte zu leisten. Für solche Modelle wären die Träger der historischen Kulturarbeit wie Archive, Museen, Heimatvereine und Geschichtswerkstätten ideale Kooperationspartner.

Ich würde mir wünschen, dass mehr Archive als bisher zu dem Ergebnis kämen, dass der Geschichtswettbewerb, dass Schulen, Schüler und Lehrer interessante Kooperationspartner sein können, die vielfältige Möglichkeiten bieten, um eigene Interessen des Archivs voranzutreiben und auch jungen Menschen den Wert der historischen Überlieferung nahe zu bringen, deren Bewahrung ohne die tausendfach in Deutschlands Archiven geleistete Arbeit nicht denkbar ist. 

Katja Fausser (Körber-Stiftung)
Vortrag auf dem 29. Hessischen Archivtag 
am 13.6.2006 in Limburg (Download)

Link: www.geschichtswettbewerb.de

Kontakt:
Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten
Kehrwieder 12
20457 Hamburg
Telefon 040 / 80 81 92 – 145
Telefax 040 / 80 81 92 – 302
gw@koerber-stiftung.de

Mülheimer Archivar geht in den Ruhestand

Nach 34 Jahren tritt der Mülheimer Stadtarchivar Dr. Kurt Ortmanns Ende September 2006 in den Ruhestand. In einem Sonderdruck der Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim an der Ruhr e.V. hat der 64-Jährige seine lange Amtszeit Revue passieren lassen. 

Nachdem die Stadt Mülheim an der Ruhr 1968 als eine der letzten deutschen Großstädte ein Archiv eingerichtet hatte, dauerte die Besetzung der Leiterstelle mit Kurt Ortmanns noch einmal vier Jahre bis 1972. Der Historiker hatte seine Doktorarbeit (Universität Köln) über das Bistum Minden in seinen Beziehungen zu König, Papst und Herzog bis zum Ende des 12. Jahrhunderts geschrieben (gedruckt Bensberg 1972). Ortmanns war als Referendar im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf tätig gewesen, bevor er seine Ausbildung an der Archivschule Marburg fortsetzte. In Mülheim konnte erst 1980 ein eigenes Archivgebäude in einer ehemaligen Schule bezogen werden. Drei Jahre später konnte der umfangreiche Archivbestand der alten Herrschaft Broich aus dem Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv nach Mülheim zurückgeführt werden. Dafür musste das Stadtarchiv aus Platzmangel allerdings immer wieder auf andere Magazinstandorte im Stadtgebiet ausweichen.

Wer die Nachfolge Kurt Ortmanns als Stadtarchivleiter antreten wird, ist ungewiss. Es herrsche noch Gesprächsbedarf, heißt es aus der Stadtverwaltung, zumal im Hinblick auf das geplante Haus der Stadtgeschichte und den für 2008 anvisierten Umzug des Stadtarchivs Mülheim an der Ruhr in eine alte Augenklinik. Eine Ausschreibung der ab Oktober 2006 vakanten Archivleiterstelle wird es zunächst nicht geben.

Kontakt:
Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
Aktienstraße 85
45473 Mülheim an der Ruhr 
Tel. 0208/4554260
Fax: 0208/4554279
stadtarchiv@stadt-mh.de

Quelle: Thomas Emons, NRZ Mülheim, 31.8.2006

Stadtarchiv Gladbeck stellt Stadtgeschichte in Schwechat aus

Im Rahmen des Schwechater Stadtfestes zeigt das Stadtarchiv Gladbeck aus Anlass des vierzigjährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft der beiden Gemeinden im Schwechater Rathaus eine Ausstellung unter dem Titel: „Kohle war nicht alles. Gladbecker Geschichte im Überblick“. Schwechat liegt süd-östlich von Wien und ist bekannt dadurch, dass der Flughafen Wien auf Schwechater Stadtgebiet liegt.

Die Ausstellung wurde am Samstag, den 26. August 2006 von den Bürgermeistern Hannes Fazekas (Schwechat) und Ulrich Roland (Gladbeck) eröffnet. Auf insgesamt neun Bild-/Texttafeln wird den Schwechaterinnen und Schwechatern die Entwicklung Gladbecks von der ersten Nennung bis auf den heutigen Tag vorgestellt. Ergänzt werden die Bilder, Dokumente und Texte durch einige exemplarische Ausstellungsstücke aus der Sammlung des Museums der Stadt Gladbeck. Bis zum 3. Oktober 2006 haben Schwechaterinnen und Schwechater die Möglichkeit, sich über die Geschichte der Partnerstadt zu informieren. Ab dem 21. Oktober findet eine Ausstellung des Schwechater Stadtarchivs im Foyer des „Neuen Rathauses“ in Gladbeck statt. Die Bild-/Texttafeln stehen auf der Homepage des Stadtarchivs Gladbeck (www.stadtarchiv-gladbeck.de) auch als Download bereit.

Tafeln der Ausstellung \“Kohle war nicht alles. Gladbecker Geschichte im Überblick\“

Tafel 1: Siedlungsgründung
Tafel 2: Vom Mittelalter bis zur Industrialisierung
Tafel 3: Kohle war fast alles
Tafel 4: Gladbeck – die Gesamtgartenstadt
Tafel 5: Gladbeck im Nationalsozialismus
Tafel 6: Wiederaufbau und Strukturwandel
Tafel 7: Gladbeck – kurz vorgestellt
Tafel 8: Gladbeck – eine europäische Stadt
Tafel 9: Schwechat und Gladbeck – vierzig Jahre gelebte Freundschaft 

Kontakt:
Stadtarchiv Gladbeck
Krusenkamp 22-24
45964 Gladbeck
Tel. 02043/992700
Rainer.Weichelt@stadt-gladbeck.de
www.stadtarchiv-gladbeck.de

Auf den Spuren der Hanse

Eine mehrtägige Ferienaktion bietet das Jugend- und Familienbüro Lippstadt in den Herbstferien an. Unter dem Motto „Geschichte mit Pfiff“ können sich Kinder zwischen acht und elf Jahren auf die Spuren des mittelalterlichen Hansebundes begeben. In Zusammenarbeit mit dem Lippstädter Stadtarchiv und Heimatmuseum wird ein spannendes und gleichermaßen lehrreiches Programm geboten. Es geht um Kaufleute, Handelswege und den Transport wertvoller Waren. Und es geht um hinterhältige Seepiraten, die Handelsreisen per Schiff zu einem reinen Abenteuer werden lassen.

Vom 10. bis 13. Oktober wird in den Räumen des Heimatmuseums gebastelt, geforscht und gespielt. Jeder Teilnehmer kann seine eigene Hansekogge bauen, es werden Talente im Handeln und Feilschen gesucht und das Ausprobieren alter Werk- und Kreativtechniken steht ebenfalls auf dem Programm. Täglich von 8.30 bis 12.30 Uhr findet diese Aktion statt, wobei Kinder berufstätiger Eltern bereits ab 7.45 Uhr an einem gemeinsamen Frühstück teilnehmen können. 

Kontakt:
Stadtarchiv Lippstadt
Soeststraße 8
59555 Lippstadt
Telefon: 02941/980-262
Telefax: 02941/720893
stadtarchiv@stadt-lippstadt.de

Städtisches Heimatmuseum Lippstadt
Rathausstraße 13
59555 Lippstadt 
Tel.: 02941 / 720891

Quelle: Presseinformation Stadt Lippstadt, 30.8.2006

Früheste Musikhandschriften Johann Sebastian Bachs entdeckt

Die beiden frühesten Musikhandschriften von Johann Sebastian Bach haben Forscher aus dem Leipziger Bach-Archiv in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar entdeckt, wie Hellmut Seemann, Präsident der Klassik Stiftung Weimar, und Professor Christoph Wolff, Direktor des Bach-Archivs Leipzig, gemeinsam mitteilten. Im Zuge einer seit 2002 vom Bach-Archiv systematisch betriebenen Durchsicht mitteldeutscher Archive und Bibliotheken stießen Dr. Michael Maul und Dr. Peter Wollny auf zwei bedeutende Handschriften aus der Jugendzeit Bachs. Dabei handelt es sich um Abschriften von Orgelwerken der Komponisten Dietrich Buxtehude und Johann Adam Reinken, die im Jahr 1700 und kurz davor entstanden sind und als die frühesten Schriftzeugnisse Bachs überhaupt gelten müssen. Damit werden sie zu wichtigen Quellen für den musikalischen Werdegang des Komponisten.

Bei den erst jetzt in ihrer ganzen Bedeutung erfassten Handschriften handelt es sich um Abschriften der Choralfantasien „Nun freut euch lieben Christen gmein“ von Dietrich Buxtehude (1637-1707) und „An Wasserflüssen Babylon“ von Johann Adam Reinken (1643-1722), die der knapp 15-jährige Lateinschüler Bach in Ohrdruf und Lüneburg anfertigte. Die original datierte Reinken-Abschrift enthält den ersten dokumentarischen Beleg dafür, dass Bach ein Schüler des Lüneburger Organisten Georg Böhm (1661-1733) war, wie die zusätzliche Angabe “â Dom. Georg: Böhme | descriptum ao. 1700 | Lunaburgi:” zeigt. 

Beide Handschriften sind als Orgeltabulaturen in Buchstaben-Notation geschrieben. Zusammen mit ihnen sind zwei weitere handschriftliche Choralphantasien über „An Wasserflüssen Babylon“ und „Kyrie Gott Vater in Ewigkeit“ überliefert, bei denen es sich um zwei bislang unbekannte Werke von Johann Pachelbel (1653-1706) handelt. Diese beiden Orgeltabulaturen sind Abschriften des Bach-Schülers Johann Martin Schubart (1690-1721), die vermutlich nach einer von Bach geschriebenen Vorlage entstanden sind. Schubart trat 1717 die Nachfolge seines Lehrers als Weimarer Hoforganist an und aus seinem Nachlass gelangten die drei Tabulaturen schließlich auf unbekannte Weise in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. 

Die Bedeutung des Quellenfundes kann kaum überschätzt werden. Angesichts der hohen spieltechnischen Anforderungen der drei Werke bezeugen die Quellen die frühzeitig erreichten virtuosen Fähigkeiten des jungen Bach sowie sein Bestreben, das Anspruchsvollste und Beste auf dem Gebiet der Orgelmusik zu beherrschen. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich der junge Bach bereits vor 1700 an der norddeutschen Orgelkunst orientierte. Offenbar war sein Weg von Ohrdruf nach Lüneburg wesentlich von dem Ziel bestimmt, über Georg Böhm mehr über die bedeutenden Repertoires der Hamburger und Lübecker Altmeister zu lernen und Zugang zu den großen hanseatischen Instrumenten zu erhalten. 

Das Langzeit-Projekt des Bach-Archivs, die in den mitteldeutschen Archiven und Bibliotheken lagernden Dokumente der Musikerfamilie Bach systematisch zu erschließen, wird von der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung gefördert. 

Die Handschriften werden ab 1. September 2006 während des Weimarer Kunstfestes in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek ausgestellt. Ab 21. September 2006 sind sie in der Ausstellung „Expedition Bach“ im Bach-Archiv in Leipzig zu sehen, zusammen mit anderen kürzlich entdeckten Dokumenten, wie der bereits im Vorjahr, ebenfalls in Weimar, gefundenen Huldigungsarie Bachs mit dem Titel „Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn“.

Kontakt:
Bach-Archiv Leipzig
Thomaskirchhof 15/16
D-04109 Leipzig
Tel.: +49-(0)341-9137-0
Fax: +49-(0)341-9137-105
info@bach-leipzig.de

Quelle: Aktuelles aus dem Bach Archiv.

125 Jahre Stadtarchiv Leipzig

Obwohl der eigentliche Jubiläumstag der 1. Oktober 2006 ist, an dem vor 125 Jahren der Philologe und Historiker Gustav Wustmann zum ersten Direktor des Stadtarchivs ernannt und damit das Stadtarchiv als wissenschaftliche Einrichtung gegründet wurde, eröffnet das Stadtarchiv die Jubiläumsfeierlichkeiten bereits am 31.8.2006 mit der Ausstellung "Archive – Netzwerke der Gegenwart, Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft".

Die Ausstellung zeigt die Entwicklung der Institution Stadtarchiv vom Jahr 1881 bis zur Gegenwart unter den verschiedensten Gesellschaftssystemen auf. Die Aufgaben des Stadtarchivs werden ebenso dargestellt wie die vielfältigen Arbeitsbeziehungen, die es zu anderen Einrichtungen der Stadt Leipzig, zu Bildungseinrichtungen und Vereinen unterhält. Interessant ist, wie die technische Entwicklung der vergangenen Jahre die Arbeit der Archivare verändert hat. Wo früher Tinte und Feder bereit standen, sind heute moderne Computer zu sehen und Fotos erhält man nicht mehr als Papierabzug, sondern als Datei.

Besucher können in der Ausstellung die wertvollsten Archivalien sehen, die das Stadtarchiv als \“Gedächtnis der Kommune\“ verwahrt und die aus Gründen der Erhaltung nur selten öffentlich zu sehen sind. Zu diesen Kostbarkeiten zählen unter anderem die Urkunde über die Stadtrechtsverleihung um 1165, der so genannte Stadtbrief, das kaiserliche Messeprivileg von 1507, der Anstellungsvertrag, den die Stadt Leipzig 1723 mit Johann Sebastian Bach schloss, und der Ehrenbürgerbrief für den ersten Oberbürgermeister Leipzigs Otto Georgi, den Max Klinger gestaltete. Zu den Aufgaben des Stadtarchivs gehört es, diese einmaligen Unterlagen der internationalen und nationalen Geschichte sowie der Stadtgeschichte für kommende Generationen als Quellen der Geschichtsschreibung zu erhalten und zur Verfügung zu stellen. 

Das Stadtarchiv Leipzig, seit 1994 in dem für Archivzwecke rekonstruierten Gebäude Torgauer Straße 74 untergebracht, gehört zu den bedeutendsten kommunalen Archiven in Deutschland und wird von Dr. Beate Berger geleitet. Es ist zuständig für die archivalische Überlieferung aus der Tätigkeit der Stadtverwaltung Leipzig, der städtischen Einrichtungen, der unter städtischer Verwaltung stehenden Stiftungen sowie der städtischen Eigenbetriebe und Mehrheitsbeteiligungen. Seine Bestände, die ca. 10 000 laufende Meter Akten und Geschäftsbücher, mehr als 4.000 Urkunden, rund.75.000 Karten und Pläne, 325.000 Fotos und Postkarten sowie Leipziger Zeitungen und anderes Sammlungsgut umfassen, sind wichtige Quellen für die Geschichte Leipzigs von der Stadtrechtsverleihung um 1165 bis in die jüngste Vergangenheit. Den jährlich mehr als 1 000 Archivnutzern steht ein modern ausgestatteter Lesesaal mit 36 Arbeitsplätzen, acht Lesegeräten und zwei Kartentischen zur Verfügung. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit werden Vorträge, Ausstellungen und Führungen angeboten. Eine Übersicht über die Bestände des Stadtarchivs Leipzig kann zum Preis von 15 Euro beim Benutzerdienst oder im Buchhandel erworben werden. 

Info:
Ausstellung "Archive – Netzwerke der Gegenwart, Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft" – Ausstellung zum Jubiläum 125 Jahre Stadtarchiv Leipzig vom 31.8.2006 bis 31.7.2007

Kontakt:
Stadtarchiv Leipzig 
Torgauer Str. 74
04092 Leipzig 
Telefon:  0341 / 24 29-0
Fax:  0341 / 24 29 121
stadtarchiv@leipzig

Quelle: Newsarchiv der Stadt Leipzig; Leipziger Internetzeitung, 30.8.2006; Stadtarchiv.

Tag des schriftlichen Kulturerbes am 2. September

Beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar am 2. September 2004 wurden neben einem großen Teil der historischen Bausubstanz und Werken der Bildenden Kunst vor allem kulturgeschichtlich einmalige Buchbestände zerstört. Der Brand in der Anna Amalia Bibliothek hat die Aufmerksamkeit aller Deutschen mit einem Schlag auf ein Kulturgut gelenkt, das sonst in der Öffentlichkeit eher stiefmütterlich behandelt wird: das Buch. Zahllose Spender waren spontan bereit zu helfen, Prominente haben sich für die Bibliothek in Weimar eingesetzt, die Presse hat in großem Umfang berichtet.

Mit der Aktion Lesezeichen am 2.9.2005 haben Bibliotheken und Archive in Deutschland ein gemeinsames, sichtbares Zeichen in der Öffentlichkeit gesetzt, um auf die Gefährdung des schriftlichen Kulturerbes hinzuweisen. Erstmalig sind sie mit einer Stimme vernehmbar für den Schutz des schriftlichen \“Gedächtnisses der Menschheit\“ eingetreten. \“Rettet die alten Bücher – nicht erst, wenn sie brennen\“: Diesem Appell von Michael Knoche, dem Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, folgen zahlreiche Bibliotheken und Archive nun bereits zum zweiten Mal. Am Samstag, 2. September 2006, gibt es eine Neuauflage der Veranstaltung.

Abgesagt wurde allerdings kurzfristig die Zentralveranstaltung des Tages des schriftlichen Kulturerbes, nachdem die Deutsche Stiftung schriftliches Kulturerbe wochenlang für den 2. September geworben hatte. Man müsse die geplanten Aktivitäten für den Tag des schriftlichen Kulturerbes "unter dem Druck von Teilen der ,Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes\‘ aufgeben", teilt die Stiftung in einem offenen Brief an die Allianz mit, hofft aber, dass die Bibliotheken und Archive die eigenen Veranstaltungen anlässlich des Jahrestages dennoch unbeirrt durchführen.

In Mönchengladbach beispielsweise bietet die Zentralbibliothek an der Blücherstraße um 10.00 und 12.00 Uhr Führungen durch die Historischen Sammlungen im Turmmagazin an. Dabei werden auch kostbare Bücher gezeigt, die älter als 500 Jahre alt und sonst nicht zu sehen sind. Das Stadtarchiv Mönchengladbach lädt um 14.00 Uhr zu einer Führung mit dem Schwerpunkt \“Kreuzherrenbibliothek Wickrath\“ ein. 

Bereits um 11 Uhr trifft Oberbürgermeister Norbert Bude – selbst Buchpate – in der Stadtbibliothek Bürgerinnen und Bürger, die sich in den vergangenen zwei Jahren in der Initiative BÜCHER SUCHEN PATEN engagiert haben, um ihnen für das Engagement zu danken und gemeinsam mit Fachbereichsleiter Guido Weyer eine Urkunde zu überreichen. Bei dieser Gelegenheit können auch die \“Patenkinder\“ – also die inzwischen mit Hilfe der Spendengelder restaurierten Bücher – besichtigt werden. 

Kontakt:
Stadtarchiv Mönchengladbach
Aachener Str. 2
41050 Mönchengladbach
Telefon: 02161-253241
Telefax: 02161-253259
stadtarchiv@moenchengladbach.de 

Zentralbibliothek 
Bibliothek
Blücherstraße 6
41061 Mönchengladbach
Tel.: (0 21 61) 25 – 6354
Fax: (0 21 61) 25 – 6369
renate.minnich@moenchengladbach.de

Quelle: Pressemeldung Stadt Mönchengladbach, 30.8.2006

Streifzug durch Dinslakener Historie

Immer mehr Bürger lassen sich bei Stadtführungen gern die Augen öffnen, vor allem zu historischen Themen. Geschichten „Vom Pranger, Stadtpförtner und adeligen Damen“ erzählt Gisela Marzin vom Stadtarchiv Dinslaken am Donnerstag, 14. September, bei einem Stadtrundgang, der um 15 Uhr auf dem Rathaus-Innenhof beginnt. Maximal 20 Personen können teilnehmen. Als Kostenbeitrag werden 4,50 Euro fällig. Anmeldungen nimmt das Stadtarchiv (Telefon 02064 / 66 269) entgegen. 

Der Streifzug durch die Dinslakener Historie dauert etwa 90 Minuten. Zu hören ist unter anderem der Eid, den der Stadtpförtner schwor. Die Teilnehmer erfahren, welche Schätze die Dinslakener im Mittelalter für ihre Kirche anschafften und wo und warum die Bürger damals am Pranger stöhnten und litten. Wo das Stadtbild nicht mehr ans Mittelalter erinnert, helfen reproduzierte Originalurkunden, Fotos und historische Stadtpläne, um sich einen Eindruck vom Gestern zu verschaffen. 

Kontakt:
Stadtarchiv Dinslaken
Platz d’Agen 1
46535 Dinslaken
Tel.: 02064 – 66 268
Fax: 02064 – 66 11 268
stadtarchiv@dinslaken.de

Quelle: Stadt Dinslaken, 30.8.2006

Streifzug durch 800 Jahre Dresdner Stadtgeschichte

Nach seinem Umzug aus dem Königlich-Sächsischen Heeresarchiv Anfang 2000 in den Speicher der ehemaligen Königlich-Sächsischen Heeresbäckerei bietet das Stadtarchiv Dresden in einer Sonderausstellung ab dem 5. September 2006 allen Interessierten die Möglichkeit, wichtige Dokumente und Urkunden aus der 800jährigen Stadtgeschichte zu besichtigen. Von Archivdirektor Thomas Kübler und seinen Mitarbeitern wurden dabei vor allem solche Archivalien aus der Schatzkammer ausgewählt, die bisher entweder noch gar nicht oder nur wenigen Personen gezeigt wurden. In 16 Vitrinen und auf 24 Schautafeln werden unter anderem Briefe und Handschriften von Goethe und Rilke, vor allem aber Dokumente, die die Entwicklung des Dresdner Bürger-, Stadt-, Steuer- und Gewerberechts aufzeigen, präsentiert. Dazu zählt auch eine Urkunde des Markgrafen Heinrich aus dem Jahre 1260, in der die Dresdner Bürger das Recht erhielten, von allen Schuldnern, die in die Stadt kamen, ein Pfand zu verlangen. Von großer Bedeutung sind auch die ausgestellten Wachstafeln, in denen Stadtschreiber in den Jahren 1437 bis 1456 die Einnahmen und Ausgaben des Städtischen Haushaltes sowie die Namen aller Neubürger einritzten. Außer in Dresden gibt es solche Dokumente nirgendwo in Deutschland. Aber auch auf aktuelle Ereignisse – wie den Streit um den Bau der Waldschlösschenbrücke – wird durch die Urkunde Bezug genommen, in der die Unesco das Dresdner Elbtal zum Weltkulturerbe erklärt.

Zu den Exponaten zählen auch eine Kupferkapsel mit Originalurkunde aus dem Jahr 1910, die vor mehreren Monaten bei Arbeiten am mittleren Sandsteinsockel an der Augustusbrücke entdeckt worden war sowie eine „Flaschenpost“ von 1949. Nachdem die Fundstücke durch das Stadtarchiv Dresden und dem Amt für Kultur und Denkmalschutz entnommen, ausgewertet und konservatorisch behandelt wurden, kamen sie Anfang August als Kopie in einer neuen Kupferkapsel zurück an ihren Platz. Von der Originalurkunde, die die feierliche Übergabe vom 24. August 1910 dokumentiert, wurde ebenso wie vom Inhalt der Flaschenpost der die Personen aufführt, die am Wiederaufbau der zerstörten Brücke von 1945 beteiligt waren, eine Kopie angefertigt. Beide Kopien sowie ein Abdruck der äußeren Gravur der alten Kapsel liegen der neuen Kapsel bei, während sämtliche Originale im Stadtarchiv verbleiben.

Die Ausstellung widmet sich auch den Problemen bei der Erhaltung von Schriftgut. In zwei Vitrinen ist aufgezeigt, mit welchen Schäden ein Archiv zu kämpfen hat, sei es durch Papierzerfall oder Pilzbefall. Neben den Verlusten durch die Bombennacht vom 13. Februar 1945 gab es auch solche durch die Revolutionskämpfe der Jahre 1830 und 1849. Dennoch verfüge man über das zweitgrößte Stadtarchiv in Deutschland, betont Archivdirektor Thomas Kübler.

Info:
\“Schätze aus dem Stadtarchiv\“, Ausstellung im Stadtarchiv, Elisabeth-Boer-Straße 1.  5. September bis 1. Dezember 2006, Mo. u. Mi. 9- 16, Di. und Do. 9-18, Fr. 9-12 Uhr

Kontakt:
Stadtarchiv Dresden
Elisabeth-Boer-Straße 1 
01099 Dresden
Tel.:0351-4881515 
Fax: 0351-4881503 
stadtarchiv@dresden.de

Quelle: Peter Weckbrodt, Dresdner Neueste Nachrichten Online, 29.8.2006; Das Neue Stadtarchiv Dresden ; Pressemeldung der Stadt Dresden, 8.8.2006

Die Gesellschaft des Gettos Litzmannstadt (Lodz)

Die Geschichte der Juden im Getto Litzmannstadt (Lodz) ist längst geschrieben, allerdings nur aus der Außenperspektive. Wie die Menschen selbst ihren Alltag empfunden und gestaltet haben, wie sie auf die Deportationen und die Schikanen durch die Besatzer umgegangen sind, wird erst jetzt bekannt: In ihrer soeben erschienen Bochumer Dissertation hat die Historikerin Dr. Andrea Löw die zahlreichen Selbstzeugnisse von Juden aus dem Getto Litzmannstadt in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache erstmals systematisch ausgewertet, um auf dieser Grundlage die Geschichte von Menschen im Getto aus deren Perspektive zu erzählen. Sie untersucht \“Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten\“. Die Arbeit entstand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Norbert Frei (Historisches Institut der RUB/jetzt Universität Jena), veröffentlicht wurde sie nun in der "Schriftenreihe zur Lodzer Gettochronik", die gemeinsam von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und dem Staatsarchiv in Lodz herausgegeben wird.

Zumindest die Texte sollten überdauern
\“Viele Schrecknisse gerieten in Vergessenheit. Viele Schrecknisse (Schandtaten) hatten keine Zeugen. Viele Schrecknisse waren derart, daß ihre Darstellung keinen Glauben fand. Aber sie sollen in der Erinnerung leben bleiben.\“ Oskar Rosenfeld schrieb diese Zeilen im Mai 1942 angesichts der Deportation von Juden aus dem Getto Litzmannstadt (Lodz) in das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) in sein Tagebuch. Der Wiener Schriftsteller, im Herbst 1941 aus Prag ins Getto deportiert, war nur einer von vielen Menschen im Getto Litzmannstadt, die Aufzeichnungen machten, damit Leben und Sterben im Getto nicht in Vergessenheit geraten würde. Innerhalb der jüdischen Verwaltung wurde zu diesem Zweck sogar eigens ein Archiv eingerichtet, in dem vor allem in einer umfangreichen Tageschronik aufgeschrieben wurde, was im Getto geschah. Juden unter nationalsozialistischer Verfolgung wollten dokumentieren, wollten mitbestimmen, wie später an die Verbrechen erinnert wird – zumindest ihre Texte sollten überdauern.

Alltag, kulturelle \“Gegenwelt\“, Liebe und Freundschaft
In der polnischen Stadt Lodz hatten vor dem Einmarsch der Deutschen rund 233.000 Juden gelebt, sie stellten etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Als im September 1939 die Deutschen kamen, sahen sie sich Raubzügen und Schikanen ausgesetzt, wurden im Getto zusammengepfercht. Hunger, Armut, Parasiten und Gestank quälten die Menschen, die auf engstem Raum zusammenleben mussten; nicht wenige Familien zerbrachen an den Zuständen. Viele Bewohner starben an Krankheiten wie Typhus. Aus den Aufzeichnungen der Bewohner erschließt sich die Innensicht des Gettos: Die Menschen beschreiben ihr Leid und seine Auswirkungen, ihre Versuche, dem Gettoleben einen halbwegs erträglichen Alltag abzuringen. Andrea Löw kann zum ersten Mal die Frage danach beantworten, wie die jüdische Bevölkerung die Deportationen erlebt hat: Es war ab einem gewissen Zeitpunkt vielen von ihnen klar, dass die Transporte in die Vernichtung führten. Die Tagebücher und Erinnerungsberichte dokumentieren aber nicht nur den Schrecken des Gettolebens, sondern auch Liebe, Freundschaften und Strategien, aus der Situation das Beste zu machen. Kulturelle Aktivitäten wie Theateraufführungen und Konzerte halfen, den Menschen, eine Gegenwelt zum alltäglichen Grauen aufrecht zu erhalten. Auch gab es, wenn auch wenige, Kontakte nach \“draußen\“ und einen organisierten Schmuggel ins Getto. 

Nur nicht resignieren
\“Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die vielfältigen Versuche der Menschen, nicht zu resignieren, sondern im Gegenteil ihr aufgezwungenes Leben im Getto zu organisieren, um ihre Situation zu verbessern\“, erklärt Andrea Löw. In der mehr als vierjährigen Geschichte des zweitgrößten von den Nationalsozialisten eingerichteten Gettos fielen mehr als 45.000 Menschen den katastrophalen Bedingungen dort zum Opfer, das ist fast jeder vierte der dort Eingeschlossenen. Mit ungeheurem Aktionismus versuchten sowohl die innerjüdische Verwaltung mit Mordechai Chaim Rumkowski an der Spitze, als auch große Teile der übrigen Bevölkerung, unter existenzbedrohenden Bedingungen ihren Alltag zu organisieren und ihrem Leben einen Rahmen zu geben. Die Menschen im Getto schlugen mit ihren Aktivitäten sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft Brücken, schufen sich vor allem durch kulturelle Aktivitäten eine Gegenwelt zur destruktiven Welt des Gettos. 

Keine homogene Masse
Gleichzeitig zeigen die Selbstzeugnisse auch, dass die Gettogesellschaft keineswegs eine Einheit war; vielmehr waren starke soziale Konflikte ein Kennzeichen dieser Zwangsgemeinschaft. Auch diese werden in der Untersuchung thematisiert. \“Die Menschen im Getto erscheinen nicht mehr als anonyme, statistisch erfasste \’Opfermasse\’\“, beschreibt Andrea Löw, \“sondern als Individuen mit einer je eigenen Geschichte, als einzelne Menschen mit begrenzten Handlungsspielräumen, die sie auf unterschiedliche Arten nutzten.\“

Info:
Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen: Wallstein Verlag 2006 (584 Seiten, gebunden, 46,00 Euro, ISBN 3-8353-0050-4).

Kontakt:
Dr. Andrea Löw
Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Otto Behaghel-Str. 10 B/1
35394 Gießen
Tel.: 0641-9929083
Fax: 0641-9929094
Andrea.Loew@germanistik.uni-giessen.de

Quelle: uni-protokolle Ruhr-Universität Bochum, 28.8.2006