Wiesbadener Archive

Archive entstehen primär überall dort, wo eine öffentliche Verwaltung tätig ist, denn das dort produzierte Schriftgut muss – zunächst aus rechtlichen Gründen – gesichert werden. Verschiedene Gesetze legen fest, dass Akten und andere Dokumente nicht einfach in den Papierzerkleinerer oder -container entsorgt werden dürfen, sondern dem zuständigen Archiv zur Übernahme angeboten werden müssen. Zu diesem Zweck gibt es die Archive des Bundes und der Länder und die kommunalen Archive, die Kreisarchive und Stadtarchive.

Darüber hinaus gibt es noch andere Archivsparten, die nichts mit der öffentlichen Verwaltung zu tun haben: Allen voran die kirchlichen Archive: Bistums-, Diözesan- und Domarchive, Stifts- und Klosterarchive sowie die Zentral- und Landesarchive der Evangelischen Kirche; dann die Herrschafts-, Haus- und Familienarchive des Adels; Archive der Wirtschaft, Parlamentsarchive und Archive politischer Parteien und Verbände; Medienarchive, Presse- und Bildarchive; Universitäts- und Hochschularchive und Archive sonstiger Institutionen wie das des Deutschen Film-Instituts in Wiesbaden.

Organisches Wachstum

Im Gegensatz zu verwandten Institutionen wie etwa den Bibliotheken „sammeln“ Archive nicht, das Schriftgut „wächst ihnen zu“: durch die ihren schriftlichen Niederschlag findende Tätigkeit der Verwaltung, der Partei, des Unternehmens, der Institution. Allerdings wird dieses organische Wachstum häufig auch unterbrochen: Kriegseinwirkungen, mutwillige Vernichtungsaktionen oder auch mangelnde Aufmerksamkeit und Professionalität führen oft zu großen Überlieferungslücken. Zum Archivgut gehören nicht nur Akten und Schriftstücke, sondern auch Karten, Pläne, Plakate, Karteien, Siegel, Stempel, Bild- und Tonaufzeichnungen. Das Schriftgut wird in der Regel in der gleichen Ordnung ins Archiv übernommen, in der es angelegt wurde, denn damit können die Vorgänge, die zu dessen Entstehung beigetragen haben, am besten nachvollzogen werden. So werden auch die geschichtlichen Vorgänge selbst bewahrt.

Klare Bestimmungen

Heute unterliegen die öffentlichen Archive gesetzlichen Bestimmungen. Das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes (Bundesarchivgesetz)“ trat am 6. Januar 1988 in Kraft. Es betrifft das Bundesarchiv und legt in Paragraph 1 fest, dass das „Archivgut des Bundes durch das Bundesarchiv auf Dauer zu sichern, nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten ist“. In das Bundesarchiv mit seinen Abteilungen in Koblenz, Berlin und anderswo gelangen alle Unterlagen der Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte des Bundes, die bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts und die sonstigen Stellen des Bundes. Nur das Auswärtige Amt besitzt ein eigenes Archiv, das den diplomatischen Schriftverkehr und ähnliches sichert. Außerdem werden die Unterlagen der Staatssicherheitsorgane der ehemaligen DDR in der „Gauck-Behörde“ gesondert aufbewahrt.

Deutschland hat als ein Bundesstaat eine föderalistische Archivverwaltungsstruktur. So sind neben dem Bundesarchiv in den einzelnen Bundesländern Landesarchive für das Archivgut des jeweiligen Landes zuständig. In Hessen trat das Gesetz für ein hessisches Archivgesetz am 18. Oktober 1989 in Kraft. Darin wird der Umgang mit dem öffentlichen Archivgut im Lande Hessen geregelt. „Es soll das öffentliche Archivgut gegen Vernichtung und Zersplitterung schützen und seine öffentliche Nutzung gewährleisten.“

„Häuser der Geschichte“

Hessen hat drei Landesarchive, „Häuser der Geschichte“ heißen sie im Gesetzestext: das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden und zwei Staatsarchive in Marburg und Darmstadt. Diese drei nehmen die Akten der Obersten und Oberen Landesbehörden auf: Regierung, Ministerpräsent, Oberlandesgerichte. Dabei orientieren sie sich in ihrem Einzugsbereich noch immer an den alten Territorien: In Darmstadt wird die Überlieferung des ehemaligen Großherzogtums Hessen-Darmstadt aufbewahrt, Marburg ist für den landgräflichen Bereich zuständig, im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden befindet sich die Hausüberlieferung des Herzogtums Nassau und der entsprechende Teil der preußischen Provinz. Die Kreis- und Stadtarchive sind für die Unterlagen der entsprechenden Verwaltungen da. Rund 69 Prozent aller hessischen Kommunen verfügen über ein – häufig allerdings eher spartanisch ausgestattetes – Archiv. Natürlich wird nicht jeder in einer Verwaltung produzierte Papierschnipsel ins Archiv übernommen. „Archivwürdig“ sind laut Archivgesetz die Unterlagen, „die auf Grund ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedeutung für die Erforschung und das Verständnis von Geschichte und Gegenwart von bleibendem Wert sind oder die zur Rechtswahrung sowie auf Grund von Rechtsvorschriften dauernd aufzubewahren sind“.

Die Kirchen haben generell ein sehr gut organisiertes Archivwesen. Das Landeskirchliche Archiv der Evangelischen Kirche in Kassel hat vor wenigen Jahren einen Archivneubau bekommen, ebenso das der Evangelischen Landeskirche Hessen-Nassau in Darmstadt. Die Archive der Katholischen Kirche befinden sich in den Bistümern Limburg und Fulda. Hessen besitzt auch ein eigenes Wirtschaftsarchiv in Darmstadt, das sich um die Sicherung und Übernahme von Unterlagen der hessischen Wirtschaft bemüht.

Viele dieser Archive öffnen ihre Pforten für jeden Interessierten und öffentliches Archivgut kann jede Person nutzen, die „ein berechtigtes Interesse“ glaubhaft machen kann. Für das Archivgut gelten in der Regel Sperrfristen von 30 Jahren. Personenbezogenes Schriftgut darf erst zehn Jahre nach dem Tod der betroffenen Person benutzt werden, bei Personen des öffentlichen Lebens gelten jedoch meist andere Fristen.

„Preußische Akten“

Moderne Archivare schwärmen geradezu von den „Preußischen Akten“, denn bei den Preußen war genau definiert, was in eine Akte kommt und was nicht. Und der zuständige Registrator prüfte mit strengem Auge, ob alles seine Richtigkeit hatte mit den einzelnen Vorgängen, bevor diese zu einer „Preußischen Akte“ zusammengenäht wurden. Heute gibt es kaum mehr feste Regeln über den Inhalt von Akten, und auch andere, für den Archivar wichtige Hilfsmittel wie etwa Aktenpläne sind, zumindest in den Kommunen, weitgehend abgeschafft worden. Moderne Akten sind nicht mehr so aussagekräftig wie in der Vergangenheit, sie sind häufig voller fotokopierter Texte, die auch an zahlreichen anderen Stellen überliefert sind; Briefe und schriftliche Unterlagen, die Entscheidungsprozesse nachvollziehbar machen, nehmen dagegen immer mehr ab. Ein großes Problem sind die E-Mails, die häufig nicht in die zuständige Akte eingeheftet werden. Die zunehmende Digitalisierung von Schriftstücken oder sogar ganzer Akten ist eine andere Zukunftsherausforderung, der sich die Archive heute stellen müssen.

Aufwändige Ausbildung

Die Ausbildung zum Archivar ist aufwändig. Frankreich war Pionier: Es bildete als erstes Land seine Archivare zentral an der 1821 gegründeten École des Chartes aus. Dann folgte Österreich 1854 mit dem Institut für österreichische Geschichtsforschung und erst 1930 wurde in Berlin ein eigenes Institut für Archivwissenschaft errichtet. Heute ist in Deutschland in der Regel die Promotion in Geschichte Voraussetzung für die Ausbildung zum Höheren Archivdienst. Daran schließen sich zwei Jahre an der Archivschule in Marburg an, zu der alle Bundesländer außer Bayern, das eine eigene Ausbildungsstätte betreibt, ihre Archivare schicken. Der Kandidat, der nicht von einem Bundesland nach Marburg geschickt wird, kann neuerdings immerhin extern die Ausbildung absolvieren, die er dann allerdings auch selbst bezahlten muss. Diese Marburger Lehrzeit schließt ein halbjähriges Praktikum ein.

Viel Verantwortung

Nach der Ausbildung wartet eine verantwortungsvolle Tätigkeit, denn es obliegt der einzelnen Archivarin oder dem einzelnen Archivar zu entscheiden, was im Archiv überdauern oder was im Papierzerkleinerer oder im Papiermüllcontainer entsorgt wird – immer vorausgesetzt, dass das Zusammenspiel zwischen Archiv und Verwaltung klappt!

Sofern das der Fall ist, werden sämtliche Unterlagen der verschiedenen Behörden von den Archivaren auf ihre Archivwürdigkeit hin geprüft. Diese Prüfung wird meist anhand des Aktentitels vollzogen, nicht in jedem Fall muss die Akte selbst in die Hand genommen werden. Im Prinzip ist trotzdem der Archivar derjenige, der entscheidet, was von politischem, administrativem, juristischem oder historischem Wert ist. Nur was die Prüfung auf Archivwürdigkeit bestanden hat, wird im Archiv so aufbereitet und gegebenenfalls „konserviert“, dass es die nächsten Jahrhunderte überstehen und damit zur Bildung von Geschichtsbewusstsein, auch zur Identifizierung mit der Kommune oder dem Land, beitragen kann.

Genauso, wie heute Menschen in Archiven und Bibliotheken auf Fragen, warum es in der Vergangenheit zu bestimmten politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Entscheidungen kam, nach wahrheitsgetreuen Antworten suchen, werden vielleicht in 500 Jahren Menschen anhand der dann noch vorhandenen Unterlagen herausfinden wollen, warum die Menschen anno 2003 in Wiesbaden…

Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 30.9.2003

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