Sorgen um Zürichs literarische Archive

Literaturarchive und Kantonsbibliotheken können davon ein Lied singen. Als Institutionen der öffentlichen Hand sind sie verpflichtet, die ihnen angetragenen Nachlässe nicht nur entgegenzunehmen, sondern auch zu archivieren. Doch zumal die Hinterlassenschaften namhafter Autoren werden häufig in eigens errichtete Stiftungen oder Archive eingebracht. Diese Unabhängigkeit garantiert eine tiefere Erschliessung des Nachlasses und eine publikumswirksamere Bewirtschaftung. Die Kostenfolgen und die damit verbundenen Probleme indessen bleiben dieselben.

In der Stadt Zürich befinden sich gleich vier solche literarische Juwelen: Sie sind öffentlich zugänglich, sie ziehen Forscher und Interessierte aus der ganzen Welt an, und sie haben alle – mehr oder weniger grosse – Geldsorgen. Auf Rosen gebettet ist keine dieser Institutionen, doch zumindest zwei sind nicht von akuten Nöten betroffen: Das Thomas-Mann-Archiv gehört der Eidgenossenschaft und ist der ETH Zürich angeschlossen. Die James-Joyce-Stiftung wiederum ist ein Sonderfall unter diesen Institutionen, da hier kein Nachlass verwaltet wird. Vielmehr versteht sich die Einrichtung als Forschungsstelle, die für Forscher und Interessierte aus aller Welt die wohl umfänglichste öffentlich zugängliche Joyce-Bibliothek Europas bietet. Die laufenden Kosten werden aus den Erträgen des von der ehemaligen Schweizerischen Bankgesellschaft und von zahlreichen weiteren Firmen einbezahlten Stiftungskapitals bestritten.

Das ebenfalls der ETH angegliederte, aber durch wenn auch bescheidene Erträge finanziell unabhängige Max-Frisch-Archiv wiederum versucht derzeit, seine Finanzierung auf eine solidere (sprich: grosszügigere) und vor allen Dingen längerfristig gesicherte Grundlage zu stellen. Aufgeschreckt hat indessen das Robert-Walser-Archiv, das Kronjuwel unter den Archiven, als es unlängst bekannt gab, dass ihm Ende Jahr die Zahlungsunfähigkeit und damit die Schliessung drohten. Inzwischen konnte, wie Bernhard Echte auf Nachfrage erläuterte, zumindest mit kleineren Zuwendungen (u. a. von der Stadt Zürich) das Überleben bis – vermutlich – Ende 2004 gewährleistet werden. Längerfristig aber müsste das Archiv einerseits eine solide Kapitalbasis erhalten, anderseits wünscht man sich einen Beitrag der öffentlichen Hand an die laufenden Betriebskosten.

Hier aber werden – nicht nur wegen leerer Kassen – weiträumig Skepsis und Unzuständigkeit signalisiert. David Streiff vom Bundesamt für Kultur sichert zwar jede denkbare moralische und ideelle Unterstützung zu, hat jedoch keine Handhabe, um über punktuelle Zuschüsse hinaus wiederkehrende Beiträge an die Betriebskosten auszurichten. Die Stadt Zürich wiederum hat zwar mit einem spontan überwiesenen Betrag dem Archiv etwas Luft verschafft, doch macht sie eine wiederkehrende Unterstützung in Form eines Standortbeitrages (der vom Gemeinderat bewilligt werden müsste) von einer Beteiligung des Kantons oder des Bundes abhängig.

Gleichzeitig fürchtet die Stadt, auf diesem Weg auch die Begehrlichkeiten der übrigen Institute aufzustacheln. Zumal Walter Obschlager, Leiter des Frisch-Archivs, möchte von der Stadt längerfristig eine Aussage darüber, was und wie viel ihr an einem in Zürich angesiedelten Max-Frisch- Archiv gelegen sei. Ein ähnliches Bekenntnis erhofft man sich indes auch im Strauhof, wo die James-Joyce-Stiftung bei der Stadt eingemietet ist. Auf April 2004 muss die Stiftung dort eine drastische Mieterhöhung hinnehmen, und sie hat ausserdem zu gewärtigen, dass nach Ablauf einer dreijährigen Übergangsfrist die Miete noch einmal kräftig angehoben wird, was dann freilich nach Aussage von Fritz Senn an die Substanz gehen und Einschränkungen im Betrieb erforderlich machen würde.

Derweil winkt man aus dem Walser-Archiv mit dem Zaunpfahl: Man solle nicht denken, der Nachlass ginge, wenn die Neuordnung der finanziellen Grundlage scheitern sollte, an die Zentralbibliothek Zürich (ZB) oder an eine andere öffentliche Institution in der Schweiz. Man werde dann in Ruhe die Situation analysieren und den Nachlass in jenes Archiv einbringen, das die besten Arbeits- und Rahmenbedingungen für die weitere Erforschung von Walsers Hinterlassenschaft bietet. Selbstredend erwartet man gerade dies von einer Schweizer Bibliothek nicht. Doch wirkt es recht befremdend, wenn nun Walsers Nachlass als Druckmittel gegen die öffentliche Hand verwendet werden soll, nachdem das Bundesamt für Kultur vor vier Jahren mit einer beträchtlichen Summe zum Ankauf bedeutender Walseriana aus der Hinterlassenschaft des Zürcher Antiquars Jörg Schäfer und damit zu einer gewichtigen Arrondierung des Archivs beigetragen hatte.

Mit Blick auf die prekäre Situation aller Archive (das Thomas-Mann-Archiv vielleicht ausgenommen) dürfte längerfristig ein Projekt aus dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich von Interesse sein. Dort hat man sich im Zusammenhang mit dem Kulturleitbild Gedanken gemacht über ein städtisches Literaturmuseum. Im Rahmen eines solchen Museums könnte dann wieder eine Idee aufgenommen werden, die früher bereits verschiedentlich diskutiert, aber nie energisch genug konkretisiert worden war: die Zusammenführung der bedeutenden literarischen Archive in einem Haus mit gemeinsamer Infrastruktur bei gleichzeitiger Wahrung der Unabhängigkeit. Sowohl das Walser- wie das Frisch-Archiv hatten sich jeweils gegenüber solchen Überlegungen interessiert gezeigt, und auch die Joyce-Stiftung wäre inzwischen grundsätzlich nicht abgeneigt. Ein solches Museum hätte dann nicht nur einen soliden Grundstock – es böte ausserdem eine hervorragende Plattform für die Präsentation der in den Archiven schlummernden Schätze. Das freilich ist Zukunftsmusik – inzwischen gilt es die akuten Probleme zu lösen. Und sei es, horribile dictu, dass Walser in der ZB überwintern müsste.

Zürichs literarische Archive:

  • Robert-Walser-Archiv
    Zweck: Betreuung, Erschliessung und Erforschung des Nachlasses von Robert Walser sowie weiterer Schriftstellernachlässe.
    Anzahl Stellen: 1,1 (angestrebt: 3).
    Finanzierung: 100 000 Franken jährlich durch Rechteverwertung und etwa 70 000 Franken aus Stiftungskapital. Das Stiftungskapital ist durch die jährlichen Defizite aufgezehrt worden. Das deshalb ausgearbeitete Sanierungskonzept sieht einen Ausbau des Archivs auf 3 Vollzeitstellen vor mit einem Budget, das sich wie folgt zusammensetzt: 100 000 Franken durch Rechteverwertung / 300 000 durch Zuwendungen Dritter. Provisorisch in Aussicht gestellt wurden bisher rund 50 000 Franken, ein Betrag, der den Betrieb bis Ende 2004 sichern würde. Die von der Stadt zugesagten 25 000 Franken decken das Defizit 2003.
  • Thomas-Mann-Archiv
    Zweck: Betreuung, Erschliessung und Erforschung des Nachlasses von Thomas Mann.
    Anzahl Stellen: 2,2 (zuzüglich einer befristeten und durch Drittmittel finanzierten Stelle).
    Finanzierung: Fixkosten (Löhne, Miete) durch ETH Zürich gedeckt, zuzüglich 36 000 Franken frei verfügbar.
  • Max-Frisch-Archiv
    Zweck: Betreuung, Erschliessung, Erforschung und Edition des Nachlasses von Max Frisch.
    Anzahl Stellen: 0,5 bis 1 (abhängig von den Stiftungserträgen und Drittmitteln).
    Finanzierung: Erträge der Max-Frisch-Stiftung (zirka 60 000 Franken jährlich); Miet- und Infrastrukturkosten durch die ETH gedeckt.
  • James-Joyce-Stiftung
    Zweck: Pflege und Erforschung des Werks von James Joyce, kein Nachlassarchiv.
    Anzahl Stellen: 2,6.
    Finanzierung: Erträge des Stiftungskapitals (etwa 7 Millionen Franken).

Quelle: NZZ, 26.11.2003

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