Lange Gänge, schummriges Licht, feuchte Wände und zusammengeschnürte Pakete vergilbter Papiere – dieses Bild verbinden Fernsehzuschauer mit einem Archiv. Nicht so das Reich des Hans Scheuern: Der ehrenamtliche Archivpfleger der Schlossstadt Heusenstamm arbeitet bei Tageslicht, das gleich durch zwei Seiten des Rathaus-Neubaus ins Zimmer 137 fließt. Gestern Abend wurde der Herr über zigtausend Akten für seinen Einsatz im Hinteren Schlösschen mit dem Heusenstammer Kulturpreis 2003 ausgezeichnet.
Genau betrachtet wacht er über vier Archive. Deren erste Aufzeichnungen stammen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, wurden von den Schönborns jedoch zu ihrem Sitz nach Wiesentheid im Fränkischen mitgenommen, lagern heute teilweise im Staatsarchiv in Würzburg. Einige der „Dorfakten“, die bis in die 30er Jahre reichen, sind aber am Ort verblieben, informiert Scheuern. Die zweite Phase reicht bis 1976 und wurde von Rektor Dittrich aufgearbeitet. Nach dessen Tod wurde der Job 1999 vom damaligen Bürgermeister Josef Eckstein dem langjährigen Kommunalpolitiker Hans Scheuern angetragen. Fünf Jahre saß er für die FDP im Stadtparlament, acht im Magistrat, so dass er über weitreichende Kenntnisse der Stadtverwaltung verfügt. Zudem bringt er aus seinem Beruf Voraussetzungen für den Umgang mit Dokumenten mit. Scheuern stammt aus Diez an der Lahn und ging als junger Schriftsetzer-Lehrling auf Wanderschaft, wie es der Brauch vorsah. Er gelangte nach Nürnberg, Bad Kreuznach und Offenbach. In Stuttgart studierte er an der grafischen Schule und machte Druckingenieurswesen. 1958 heiratete er, zwei Töchter sowie ein Sohn gehörten bald zur Familie. 1961 begann er bei einer Frankfurter Druckerei als Betriebsassistent, nach kurzer Zeit übernahm er die Leitung. „Ich hab' mir das ganz locker vorgestellt“, blickt der Ausgezeichnete über eine Regalwand, „in einem Jahr oder zwei wollte ich durch sein“. Jetzt steckt er immer noch mitten drin im Bewerten von Akten. So umschreibt er seine Tätigkeit, mit der er Stapel im Din-A4-Format abarbeitet. Die Anschreiben an die Stadt und die von ihren Ämtern, Bewilligungen, Auskünfte, Satzungen und andere Korrespondenz wandert erst in die Registratur. Frühestens nach einem Jahrzehnt endet Aufhebungspflicht, dann können die Papiere in Scheuerns Abteilung wandern. Gerade sortiert er Briefe, deren Ein- oder Ausgang rund 25 Jahre zurückliegt. „Das ist schon ziemlich nah dran am Zeitgeschehen“, erklärt er aus der Sicht des Archivars. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Stapel mit Schriftstücken des Italienischen Familienvereins, viele sind in der Sprache seiner Mitglieder verfasst. Wie kann der Sammler da entscheiden, was für die Nachwelt interessant sein kann und womit der Reißwolf gefüttert wird? „Ich hatte in der Schule Latein“, winkt Scheuern ab. Meistens erkennt er schon in Adress- und Betreffzeilen, worum es sich handelt. Und falls er sich mal wirklich unschlüssig ist, wendet er sich an einen Kollegen in der Verwaltung, der der Fremdsprache mächtig ist. Die wichtigen Bögen legt er dann in einen Faszikel, der kleinsten Einheit innerhalb der Unterteilung. Belege findet er mit Hilfe eines eigenen Computer-Programms recht flott. Dem Rechner genügt das Aktenzeichen, eine Jahreszahl oder auch nur ein Stichwort, und er spuckt alle Nummern der Faszikel, Ordner, Fächer und Stahlschränke aus, in denen etwas zur eingetippten Angabe zu finden ist. Auch dieser Zeitungsartikel wird bald den Weg in sein Reich finden, denn eine Kollegin wird ihn einscannen, weil er Belange der Stadt berührt. Suchende können sich bei Hans Scheuern Kopien von Unterlagen anfertigen lassen. Aber nur, wenn die Herausgabe keinen Konflikt mit dem Datenschutzgesetz heraufbeschwört. Und wenn es nicht um Personen geht, die vor weniger als 100 Jahren das Licht der Welt erblickten.
Quelle: Offenbach-Post Online, 4.11.2003
St.-Galler-Stadtgeschichte in zwei Archiven
Zwei Bestände, zwei Archivare, unterschiedliche Trägerschaften: Das eine Stadtarchiv enthält die Altbestände aus der Zeit der Stadtrepublik, das andere nur Quellen zur modernen Stadt.
Stefan Sondereggers Lieblingsdokument aus «seinem» Archiv ist das Stadtbuch mit dem ersten Stadtgesetz, das 1312 begonnen wurde. Ihn fasziniert, wie die Stadt damals anfing, sich selber zu verwalten, losgelöst von der äbtischen Herrschaft. Marcel Mayer wählt das Niederlassungs- und Aufenthaltsregister von 1803 bis 1918. Es wird derzeit in einer Datenbank erfasst und gibt Aufschluss darüber, wie die städtische Gesellschaft mit dem Anziehen der Wirtschaft immer heterogener wurde.
Beide Episoden waren von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung der Stadt. Doch beide lagern in verschiedenen Archiven.
Erst seit 1986 gibt es ein zentrales Archiv der politischen Gemeinde, dem heute Marcel Mayer vorsteht. Er ist zuständig für die Akten der Gemeinden St. Gallen seit der Zeit von 1798 bis 1831 sowie – vor der Stadtverschmelzung – Tablat und Straubenzell. Das Archiv der Ortsbürgergemeinde, das Stefan Sonderegger betreut, umfasst die Altbestände mit einem umfangreichen Urkunden-Bestand (und die Akten der Ortsbürger bis heute). Entsprechend unterschiedlich ist die Tätigkeit der beiden Archivare: Stefan Sonderegger hat es mit einem fast «toten» Archiv zu tun – es hat kaum Neueingänge zu verzeichnen. Dafür sind viele der Dokumente nicht nur lokal oder regional von Interesse, sondern betreffen den ganzen Bodenseeraum. Marcel Mayer hingegen muss mit der grossen Datenfülle umgehen, die die verschiedenen Verwaltungsstellen regelmässig freigeben. Hinzu kommen private Akten wie Tagebücher oder Briefe sowie Firmenarchive. «Die Frage ist nicht: Was wirft man weg?», erklärt Mayer, «sondern: Was behält man?» Das Stadtarchiv nimmt nur etwa 10 Prozent der anfallenden Akten und Nachlässe an – jene nämlich, die historisch relevant sind – aus Platzgründen und wegen der Übersichtlichkeit. Für denselben Informationsgehalt wird heute ohnehin viel mehr Papier gebraucht als in früheren Jahrhunderten, als Schreiben Handarbeit und Schreibmaterial kostbar war. Der Einzug des Computers in die Büros hat die Papierflut nochmals vergrössert – und stellt die Archivare vor zusätzliche Probleme: Wie sichert man digitale Daten für längere Zeit? Mit jedem Überspielen auf aktuelle Software können Informationen verfälscht werden. Und wie lange CDs halten, weiss man noch nicht. Das Stadtarchiv bewahrt daher vor allem Ausdrucke oder Mikrofichen auf. Ähnliche Probleme ergeben sich mit Tonträgern und Filmen: Überspielungen und Restaurierungen sind aufwendig, aber notwendig. Dies betrifft etwa die Gemeinderatsprotokolle, die es in schriftlicher Form seit 1972 nur noch als Beschlussprotokolle gibt. Von grossem Wert sind auch zum Beispiel die ältesten bewegten Bilder von St. Gallen, die vom Kinderfest 1927 stammen.
Angesichts der Datenfülle aus neuerer Zeit lagert einiges im Archiv, von dem die Archivare den Inhalt nur ungefähr kennen. Auch im Ortsbürger-Archiv gibt es noch manche Trouvaille: Die Akten, die Sonderegger etwa für die Edition im Chartularium Sangallense oder für die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen bearbeitet, sind zu rund 40 Prozent bisher unbekannt oder nur in einer Kurzversion editiert. Solche Editionsarbeiten sind sehr aufwendig: Um eine einzige Urkunde fachgerecht zu erfassen, hat Sonderegger rund eine Woche. «Trotz technischer Hilfsmittel kann man die Arbeit nicht wesentlich beschleunigen», erklärt er. Denn der Computer scheitert schon bei verschiedenen Schreibweisen desselben Namens. Von Nutzen ist er dagegen für die Benutzenden, wenn sie auf ein umfassendes Register zurück greifen können.
Kontakt:
Stadtarchiv St.Gallen und Stadtarchiv (Vadiana) St.Gallen
Notkerstrasse 22
CH-9000 St.Gallen
TEL ++41 71 224 62 23 und ++41 71 244 08 17
FAX ++41 71 244 07 45
stadtarchiv.sg@bluewin.ch
Quelle: St. Galler Tagblatt (CH), 4.11.2003
Uni-Museum präsentiert Werke aus dem Archiv
Wenn ein Museum seine Archive öffnet, so zieht dies meist eine Rechtfertigung nach sich: Warum hängt nicht dieses oder jenes Bild in der ständigen Ausstellung? Wie ist die Auswahl der Werke begründet? Auch Museumsdirekter Dr. Jürgen Wittstock stellte sich diese Fragen am Sonntagmorgen bei der Archiv-Ausstellung in den oberen Räumen des Marburger Universitätsmuseums.
Er nahm sie zum Anlass, so etwas wie ein persönliches Resümee seiner Arbeit am Museum zu ziehen, die mit der Fertigstellung und Bestückung des geplanten Anbaus wohl ihren Höhepunkt erreichen wird. Wittstock sprach von seinem Amtsantritt vor 17 Jahren und sieht sich seitdem der Ausrichtung des Museums auf die Moderne verpflichtet, ohne dabei die Traditionen zu vernachlässigen.
Und so liegt denn auch der Schwerpunkt der Archiv-Ausstellung auf Werken des 20. Jahrhunderts, ja eigentlich nur auf solchen der letzten zwanzig Jahre.
In einem chronologischen Rundgang lässt sich so manche Entdeckung erschließen, die ansonsten in den Kellern des Museums verborgen ist: Angefangen bei einer kleinen Sammlung von Werken des Kasseler Malers Johann Heinrich Tischbein aus dem 18. Jahrhundert oder den populären Grottengemälden von Georg Heinrich Hergenröder, über mystische und grandios-verspielte Landschaftsbilder des 19. Jahrhunderts bis hin zu Arbeiten von Raimer Jochims, Clemens Mitscher oder Burgi Scheiblechner aus den achtziger beziehungsweise neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die Ausstellung ist eine kleine Reise durch drei Jahrhunderte, erfrischend undogmatisch und bunt durcheinander gewürfelt, die deutlich macht, dass nicht alles, was ein Museum zu bieten hat, immer dem Blick der Öffentlichkeit zugänglich ist. Nachdrücklich wies Wittstock angesichts dieser archivierten Werke noch einmal auf die große Bedeutung des Anbaus hin, der die neue Sammlung Eitel aufnehmen soll und dessen Finanzierung noch immer nicht gesichert ist.
Jahrzehntelang wurde von beiden Seiten gezielt auf eine Verbindung dieser beiden Sammlungen hin angekauft, so dass der Bau eine Notwendigkeit für die Weiterentwicklung des Museums darstellt.
Kontakt:
Marburger Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte
Direktion und Verwaltung
Biegenstraße 11,
35037 Marburg
Telefon 06421 / 28-22355, Fax 06421 / 28-22166
- Universitätsmuseum für Bildende Kunst Ernst-von-Hülsen-Haus, Biegenstraße 11 (neben der Stadthalle)
- Universitätsmuseum für Kulturgeschichte, Landgrafenschloss, Wilhelmsbau
Quelle: Marburger Neue Zeitung, 4.11.2003
Im Schloss surren Scanner für die Mormonen
Prunkvoll steht das elegante Schloss Kossenblatt (Oder-Spree) inmitten eines Wäldchens. Ein massives Eisentor und der Zaun schirmen den Barockbau von der Außenwelt ab. Auf dem herrschaftlichen Anwesen surren Scanner und filmen Kameras. Um vergilbtes Archivmaterial oder Namensregister der Nachwelt zu erhalten, werden diese auf Mikrofilm gebannt. Haltbarkeit: rund 500 Jahre.
Zu dem Material, das die 21 Mitarbeiter der Mikrofilm-Center Kossenblatt GmbH auf Spezial-Zelluloid „verfilmen“, gehören Einwohnermelderegister aus dem 18. Jahrhundert, uralte Leichenpredigten oder kaum noch identifizierbare Adressbücher aus dem 17. Jahrhundert. „Durch unsere Arbeit erhalten wir unwiederbringliche Unterlagen der Nachwelt“, sagt Gottfried Keßler, Prokurist der Film-Firma. Schon als Zentralstelle für Reprografie der DDR genoss das Unternehmen Weltruf. Heute ist Schloss Kossenblatt die bedeutendste „Kopierstelle“ der neuen Bundesländer. Trotz voller Auftragsbücher hatte die Mikrofilm-Firma vor 15 Monaten Insolvenz beantragen müssen. Mittlerweile schreibt sie nach Angaben Keßlers aber wieder schwarze Zahlen.
Einen ganz besonderen Auftrag zogen die Mikrografen aus Ostbrandenburg im US-Bundesstaat Utah an Land. Hier lebt der größte Teil der weltweit mehr als zwölf Millionen Mormonen. Und die forschen auf dem gesamten Erdball nach ihren Vorfahren. Ihrem Glauben nach soll so „eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart in die Zukunft“ gebaut werden, heißt es in einer Erklärung der europäischen Mormonenvertretung in Frankfurt/Main. Um die Recherche nach Urahnen aus dem deutschsprachigen Raum zu forcieren, soll das Kossenblatter Unternehmen alte Kirchenbücher und Namensregister auf bis zu 30 Meter lange Filmrollen bannen. Je nach Bedarf werden die Unterlagen dann später ausgewertet.
Geschäftspartner ist die 1894 gegründete Genealogische Gesellschaft von Utah (GGU) der Mormonen. In ihrem Auftrag durchstöberten Gottfried Kessler und seine Mitarbeiter schon etliche Archive. „Etwa zweimal im Jahr bekommen wir Besuch von den Mormonen, die sich dann nach dem aktuellen Stand der Dinge erkundigen“, sagt Kessler. Bereits jetzt lagern Tausende von Kossenblatter Filmrollen in einem atombombensicheren Granitgewölbe bei Salt Lake City in Utah. In den Felsblock in den Rocky Mountains passen insgesamt sechs Millionen Rollen Mikrofilm.
Um die zu füllen, bräuchten mehrere Mikrofilm-Betriebe noch Jahre, so Reprografin Sandra Dallmann. Die Werkräume der in Deutschland einzigartigen Verfilmungsstelle wirken da doch eher schlicht. In roten Behältnissen, die Bäckerei-Kisten aus Plastik ähneln, liegen jahrhundertealte Kirchenschriften und Zivilstandsregister. Der Prokurist plaudert über Historie und Leben der Mormonen. Er selber sei kein Mormone, betont der kleine Mann mit Krawatte. Einige Beschäftigte sitzen im flachen Kopierraum, den nur Schummerlicht etwas erhellt. Lediglich die riesigen Verfilmungs- und Kopiermaschinen spenden Licht.
Quelle: Morgenpost, 3.11.2003
Allershausener Ortschronik II
Der zweite Teil der Allershausener Ortschronik, „Die Geschichte der Häuser“, ist fertig. Im Rahmen einer Feierstunde stellte Bürgermeister Rupert Popp das gewichtige Werk am Donnerstag. Popp erinnerte an die langen Jahre der Recherchen, die Chronist Wolfgang Koob auf den ersten Band verwendet hatte und auch an das Echo, das dieses Buch hervorgerufen hatte. Irritationen habe es gegeben; nicht alles, was Koob geschrieben hatte, fand das Einverständnis der Leser. Trotz aller Diskussionen habe sich der Gemeinderat entschieden, Koob auch mit dem zweiten Teil zu beauftragen. Nach Koobs Tod hat der Historiker Andreas Sauer das Werk fertig gestellt.
Die Häuser, die Allershausen prägten, die Höfe und auch die Baugeschichte selbst sind Thema des zweiten Bandes. Die Menschen Allershausens sind aber die Grundlage für das Buch, so Popp, und deshalb sei das Buch auch für jeden Ortsbewohner von großem Interesse.
Ein Grundbedürfnis der Menschen sei es, zu wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, sagte Kreisheimatpfleger Rudolf Goerge. Dieses Interesse an der Geschichte sei notwendig, um sich selbst und seine Umgebung einzuordnen, um den eigenen Standpunkt zu finden und auch, um zu verstehen, warum sich manches so entwickelt hat, wie es sich heute darstellt. Eine Chronik über einen Ort ermögliche den Blick auf die Vergangenheit, sei das Gedächtnis der Heimat und deshalb auch für eine Ortschaft von großer Bedeutung. Er habe Respekt vor der Arbeit, die sich Andreas Sauer gemacht habe, die Archive zu durchstöbern, Quellen zu durchforsten und in mühevoller Kleinstarbeit die Spreu vom Weizen zu trennen, um einen unverstellten Blick auf die Vergangenheit zu bekommen.
In der heutigen Zeit der nur noch medialen Archivierung könne man Sorge haben, ob die späteren Generationen auch noch so viele Informationen über ihre Vergangenheit werden finden können, wie das bisher der Fall war. Deshalb plädierte Goerge dafür: „Hebt alles auf, was geschrieben ist, später wird man froh darum sein.“ – Das Häuserbuch der Gemeinde Allershausen ist ab sofort in der Gemeinde erhältlich.
Kontakt:
Gemeinde Allershausen
Johannes-Boos-Platz 6
85391 Allershausen
Telefon (08166) 67 93-0
Telefax (08166) 67 93-33
gemeinde@allershausen.de
Quelle: Merkur-Online, 31.10.2003
Vor 185 Jahren endete die „Assmannshäuser Staatsaffäre“
Am 15. Mai 1817 ereignete sich am Rheinufer vor Assmannshausen ein spektakulärer Vorfall: Schultheiß Caspar Fischer, begleitet von zwei bewaffneten Rekruten, befahl dem Bacharacher Schiffsmann Adam Welcker, der zusammen mit einem Tagelöhner sein beladenes Schiff auf dem Leinpfad flussaufwärts schleppte, zu landen. Sofort zerschnitt der sich bedroht fühlende Welcker die Leinen seines Schiffes und setzte von der nassauischen Rheinseite aufs andere Ufer über, wo er nahe dem preußischen Dorf Trechtingshausen vor Anker ging. Fischer folgte ihm in Begleitung zweier Bewaffneter und verhaftete ihn gegen die Vorhaltungen einiger Dorfbewohner. Dann zwang er ihn, an das Assmannshäuser Ufer überzusetzen und brachte ihn nach Rüdesheim, wo der Amtmann die Warenladung beschlagnahmte. Erst dann ließ man Welcker frei, der sich mit seinem Kahn zurück in seine Heimatstadt begab.
Nachdem der im nassauischen Wiesbaden tätige preußische Gesandte („Minister-Resident“) von Mettlingh von der preußischen Regierungsbehörde in Koblenz am 8. Juni über den Vorfall informiert worden war, wandte er sich am 27. Juni an Marschall von Bieberstein und „ersuchte“ diesen, „geneigtest verfügen zu wollen, daß die Veranlassung dieses höchst auffallenden Vorganges mit möglichster Genauigkeit untersucht werde, damit es sich ergeht, mit welchem Rechte der Schiffer Welker in der Ausübung seines Gewerbes gestört, auf der freien Rheinseite angehalten und ihm der verdiente Gewinnst entzogen worden ist?“ und forderte in unmissverständlichem Tone die nassauische Regierung dazu auf, künftig die Souveränität der staatlichen Grenzen zu achten und somit die preußischen Bürger vor solchen Gewaltakten zu schützen.
Es begann nun, wie der im Geheimem Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem erhaltene amtliche Briefwechsel zwischen dem preußischen Innenminister und dem nassauischen dirigierenden Staatsminister Marschall von Bieberstein belegt, eine diplomatische Auseinandersetzung zwischen den beiden Staaten, die sogar von preußischer Seite zu einer „Crise“ im Verhältnis beider Staaten hochgespielt wurde.
Der Staatsminister beantwortete das Schreiben nahezu einen Monat später, am 23. Juli, nachdem er in diesem für den nassauischen Staat höchst unangenehmen „Fall“ umfassende Untersuchungen vorgenommen hatte. Er legte von Mettlingh den Stand der Ergebnisse dar: Der Schultheiß hatte demnach im Auftrage eines Rüdesheimer „Handelsjuden“ gehandelt, der nach einem Streit „über ihre gegenseitigen Ansprüche“ mit einem anderen ortsansässigen „Handelsjuden“ seine Güter in Bacharach gelagert hatte. Er beauftragte den Assmanshäuser Schultheißen, die „Waaren auf Gefahr und Kosten der Impetranten zu arretiren“. Fischer führte den Auftrag aus, ließ sich aber, wie von Bieberstein kritisch vermerkte, „verleiten, die Gränzen seiner Befugnis und den erhaltenen amtlichen Auftrag so weit zu überschreiten, daß er den Schiffer mit Reservisten auf die Jenseite verfolgte und von dort mit herüber brachte“.
Zur Beruhigung der empörten preußischen Regierung versicherte von Bieberstein, er bedauere, „daß die Territorial-Grenzen ordnungwidrig bei diesem unagenehmen, von diesseitigen Unterbehörden veranlaßten Vorgang überschritten worden sind“ und das Verhalten des Schultheißen „auf keine Weise zu rechtfertigen“ sei. Der Vorfall sei von der Landesregierung in der Weise geahndet worden, „das Benehmen des Schultheisen so wie des Beamten denselben um so mehr auf das Nachdrücklichste zu verweisen“ und Fischer sei angewiesen worden, „alle etwa durch diesen Excess den Betheiligten erwachsene Kosten und Schäden zu ersetzen“.
Welche Strafe die preußische Regierung für den Schultheiß vorsah, sprach sie in einem Gutachten aus: Gemäß dem Preußischen Landrecht II. Theil § 337 „müßte hiernach nach unseren Gesetzen durch Amtsentsetzung und außerdem durch verhältnißmäßige Gefängniß- oder Festungsstrafe gebüßt werden. Die letztere Strafe könnte nach den Grundsätzen unserer Praxis und des durch selbige geleiteten richterlichen arbitrii, nicht unter das Maas einer zweimonatigen Gefängnisstrafe fallen“.
Auf wiederholtes Drängen der preußischen Seite antwortete der nassauische Staatsminister, man solle „aus dem Exceß eines Ortsschultheißen“ nicht das gute nachbarliche Verhältnis beider Staaten in Zweifel ziehen. Die nassauische Regierung habe schließlich den Täter weitgehend bestraft. So endete die „Assmannshäuser-Schultheißen-Affäre“, die für einige Monate das Verhältnis zwischen den beiden Staaten nachhaltig beeinträchtigt hatte. „Bürgermeister“ Fischer blieb Dorfoberhaupt bis zum Jahre 1820.
Quelle: Wiesbadener Kurier, 1.11.2003
Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 59 / 2003
Das Heft 59 / Oktober 2003 der Archivpflege in Westfalen-Lippe ist erschienen. Es enthält schwerpunktmäßig die Referate des 55. Westfälischen Archivtags (2002), der sich mit Fragen lokaler Identitätsbildung sowie dem Wandel im kommunalen Dienstleistungsangebot befasste.
INHALTSVERZEICHNIS
BEITRÄGE
- Werner Frese: Tagungsbericht
- Raimund Bartella: „Das Kommunalarchiv“ – Ein Positionspapier der Bundeskonferenz für Kommunalarchive
- Wilhelm Grabe: Gedächtnis des Kreises? – Kreisarchive als Träger regionaler Geschichtskultur
- Ludwig Burwitz: Das Stadtarchiv Siegen und die Region Siegerland
- Franz-Josef Jakobi: Stadtgeschichtliche Dokumentation und lokale Erinnerungskultur
Archive im Konkurrenzfeld der Veranstaltungskultur
Statements von:
- Rikarde Riedesel: Bad Berleburg: Eine Kleinstadt mit erstaunlicher kulturelle Infrastruktur
- Rico Quaschny: Das Stadtarchiv Bad Oeynhausen: Kompetenz, Kooperation und Kontinuität statt Konkurrenz
- Franz Meyer: Das Stadtarchiv Bad Salzuflen
- Norbert Wex: Das Stadtarchiv Soest
- Barbara Lemsch / Jörg Rudolph: Archivische Dienstleistung auf dem freien Markt: Facts & Files Historisches Forschungsinstitut Berlin
- Hans Budde: Outsourcing im Bereich von archivtechnischen Aufgaben
- Zielsetzung des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NFK) – Bilanzierung von Archivgut (Kurzzusammenfassung der Kernthesen des Vortrags von Steffen Vollbrecht)
KURZBERICHTE
„Archivierung“ durch Logistik-Unternehmen ; 25 Jahre Kreisarchiv Soest ; Konferenz für historische Bildungsarbeit und Archivpädagogik startet europäisches Netzwerk ; Nachlass des Baupflegers Franz Pieper im Archiv des Landschaftsverbandes ; Gründung der neuen Arbeitsgemeinschaft der Stadt- und Gemeindearchive beim Städte- und Gemeindebund NRW (ASGA) ; Olper Drucker „Petrus in Altis“ wiederentdeckt – Stadt Olpe erwirbt Inkunabel von 1478 für das Stadtarchiv ; Das GDS-Institut im Stadtarchiv Paderborn ; Bertelsmannarchiv wieder zugänglich ; Das Hofesarchiv der Familie Conze in Borgentreich ; Start für das Netzwerk Auswandererforschung ; Sachthematisches Inventar zur Zwangsarbeit im Internet ; Stadtmodell „Lünen um 1700“ ; Für die Forschung gerettet und erschlossen: Die Patientenakten des Lindenhauses in Lemgo ; Antrittsvorlesung von Professor Dr. Norbert Reimann an der FH Potsdam ; Heraldische Sammlung Reclam jetzt in Berlin ; Findbücher im Internet ; Eile und Weile – 5. Geschichtswettbewerb 12. September 2003 bis 29. Mai 2004 ; Neues Depositum im Archivdepot der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e. V. ; 60. Geburtstag von Professor Dr. Reimann
REZENSIONEN
- Brigitte Kramer, Freizeitspaß und Schwimmvergnügen. Geschichte des öffentlichen Badewesens (Wolfgang Bockhorst)
- Beatrix Pusch, Die kommunale Neugliederung im Kreise Soest (Gunnar Teske)
- Kloster – Stadt – Region. Festschrift für Heinrich Rühting. Hrsg. v. Johannes Altenberend (Horst Conrad)
- Michael Ströhmer, Von Hexen, Ratsherren und Juristen. Die Rezeption der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. in den frühen Hexenprozessen der Hansestadt Lemgo 1588-1621 (Wolfgang Bockhorst)
- Erwin Dickhoff, Coesfelder Biographien (Horst Conrad)
- Andrea Zupancic / Thomas Schilp, Der Berswordt-Meister und die Dortmunder Malerei um 1400. Stadtkultur im Mittelalter (Simone Epking)
- Andreas Huneke / Rico Quaschny, Rehme. 1250 Jahre Orts- und Heimatgeschichte eines Minden-Ravensburger Dorfes (Lutz Trautmann)
- Urkunden des Klosters Hardehausen. Bearb. von Helmut Müller (Wolfgang Bockhorst)
- Anne Strunz-Happe, Wandel der Agrarverfassung. Die „Bauernbefreiung“ im ehemaligen Hochstift Paderborn im 19. Jh. (Wolfgang Bockhorst)
- Josef Wermert, Olpe. Geschichte von Stadt und Land. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (Rico Quaschny)
Archivpflege in Westfalen-Lippe. Münster. ISSN 0171-4058
Redaktion:
Susanne Heil <susanne.heil@lwl.org>
Zuschriften an das
Westfälische Archivamt, Redaktion
Postfach
48133 Münster
Telefon: 0251/591-3890
Telefax: 0251/591-269
Benjamin-Nachlass kommt nach Berlin
Im Herbst kommenden Jahres wechselt das Walter-Benjamin-Archiv von Frankfurt/Main nach Berlin. Diese Nachricht rührt an, weil sie das Bild einer späten Heimkehr assoziieren lässt. War doch der 1892 in Berlin geborene Schriftsteller jüdischer Herkunft, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis in Port Bou an der französisch-spanischen Grenze das Leben nahm, in seinen letzten Jahren entwurzelt und unbehaust. Gestern teilten der Berliner Archivdirektor Wolfgang Trautwein und Philipp Reemtsma von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur mit, das Theodor-W.-Adorno-Archiv in Frankfurt/Main werde Benjamins dreiteiligen Nachlass an das Archiv der Berliner Akademie der Künste übergeben.
„Was sollte Benjamin auch in Frankfurt? Dort wurde er nicht einmal habilitiert. Weil das Verhältnis zwischen Adorno und Benjamin nicht das beste war, schien es uns schon immer misslich, Benjamins Texte in Frankfurt zu parken“, hieß es aus Kreisen des Adorno-Archivs. In dessen Räumen hatte man das Schriftenkonvolut – darunter Korrespondenzen, Notizen, Entwürfe und Erstfassungen seiner Hauptwerke wie „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ – 18 Jahre lang gelagert.
In Berlin wird dem Nachlass ungleich mehr Platz eingeräumt als in der Main-Metropole. Als Einrichtung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, in deren Besitz Benjamins Vermächtnis ist, soll den Dokumenten als Bestandteil der Stiftung Archiv Akademie der Künste auf 250 Quadratmetern eigene Räume in der Abteilung Literatur, die in der Luisenstraße 60 (Mitte) untergebracht ist, zugewiesen werden.
Als Leiter der Benjamin-Sammlung wird kommissarisch Erdmut Wizisla fungieren. Der Leiter des gleichfalls in Berlin ansässigen Brecht-Archivs ist Benjamin-Kenner. Gelobt wurde „Aber ein Sturm weht vom Paradies her“, eine von ihm mitherausgegebene Anthologie mit Texten über Benjamin. Im Suhrkamp Verlag veröffentlicht Wizisla, der das Archiv später der Öffentlichkeit zugänglich machen will, demnächst eine Studie zum Verhältnis von Brecht und Benjamin. Er hoffe, „diese Herausforderung zu meistern“, sagte Erdmut Wizisla gestern.
Kontakt:
Theodor W. Adorno Archiv
Friedberger Anlage 24
D-60316 Frankfurt am Main
Tel: 069 – 43 23 23
Fax: 069 – 48 00 87 56
info@adorno-archiv.de
Quelle: Morgenpost, 31.10.2003; FAZ, 31.10.2003
Die Wahrheit jenseits der NS-Akten
Wer nur den NS-Dokumenten vertraut, verkennt den Widerstand der Deutschen, so die These von Nathan Stoltzfus in seinen Anmerkungen zum Historikerstreit um die „Rosenstraße“ in der ZEIT.
Mit seiner grundsätzlichen Kritik an Margarethe von Trottas Film Rosenstraße hat der Historiker Wolfgang Benz die Expertenschaft für ein Thema behauptet, das er freilich in seinem Standardwerk über Die Juden in Deutschland (1989) nur mit wenigen Sätzen erwähnt. Die Beiläufigkeit dort sollte zu verstehen geben, dass dem Protest der deutschen Frauen, die 1943 für die Freilassung ihrer jüdischen Männer vor dem Gefängnis in der Berliner Rosenstraße demonstrierten, nicht mehr Bedeutung zukomme als irgendeinem anderen Ereignis, das seiner Konzeption von Macht und Verantwortung im NS-Staat widersprechen könnte. Der Protest der Frauen, so wandte Benz gegen den Film ein, habe nichts für die Rettung der Männer bewirkt; vielmehr sei deren Freilassung genauso geschehen, wie es das Regime gewollt hatte. Er folgte damit der verbreiteten Vorstellung, Deutsche hätten angesichts der Nazimacht wirksamen Widerstand gar nicht leisten können.
Die Geschichte der Rosenstraße wurde von Benz mit einem spürbaren Gähnen in dem Kapitel Überleben im Untergrund 1943-1945 abgelegt, womit zugleich der irreführende Eindruck entstand, Juden in Mischehen hätten nur im Untergrund überleben können. Tatsächlich konnte ich in einem Aufsatz 1998 nachweisen, dass 98 Prozent der deutschen Juden, die ohne Abtauchen in den Untergrund überleben konnten, mit Nichtjuden verheiratet waren. Benz zitierte auch keinen der bekannten Historiker, darunter Raul Hilberg, Richard J. Evans und Ian Kershaw, die den Schluss gezogen hatten, dass erst die protestierenden Frauen die Gestapo gezwungen hatten, die Juden freizulassen, statt sie zu deportieren.
Mit der Meinung von Benz wurde ich das erste Mal konfrontiert, als ich Mitte der achtziger Jahre als Fulbright-Stipendiat nach Berlin kam, um die Proteste der Rosenstraße zu erforschen. Der Historiker Wolfgang Wippermann erklärte mir, dass alles, was darüber herauszufinden war, herausgefunden worden sei. Im Übrigen seien die letzten Überlebenden gerade verstorben. Als ich meine Untersuchung 1995 in Geschichte und Gesellschaft veröffentlichte, antwortete Christof Dipper (Sommer 1996) mit dem gleichen Befund; wie er sagte, habe Kurt Ball-Kaduri die Rosenstraße „seit langem“ (nämlich 1973) erschöpfend erforscht. 1997 erschien Benz’ Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Die Rosenstraße blieb ohne Erwähnung, obwohl ein Überblicksaufsatz zum Thema Frauen zwischen Abweichung und Widerstand Paare in Mischehe erwähnt und Kategorien angibt, für die der Rosenstraßen-Vorgang eine ausgezeichnete Anschauung geboten hätte.
In seiner Kritik an Trottas Film stützte Benz seine bekannte Auffassung mit Hinweis auf neue Dokumente, die der Historiker Wolf Gruner gefunden hatte. Einmal abgesehen davon, dass diese Dokumente nicht viel Neues besagten, ist die Bereitschaft überhaupt erstaunlich, sich auf einige wenige Dokumente der Nazibehörden zu verlassen – um den Preis der Verleugnung und Ausklammerung einer Fülle anderer, ebenso wichtiger oder wichtigerer Dokumente. Woher wissen wir zum Beispiel, dass die Protestierenden unwissend und wirkungslos waren? Weil es uns ein Bürokrat des Regimes so mitteilte?
In der Ausblendung solcher Fragen zeigt sich die Fortdauer einer Auffassung der frühen Nachkriegszeit, nach der die Nazimacht absolut und ein Aufbegehren kleiner Leute unvorstellbar waren. Bezeichnend ist Benz’ Begründung für die Sinnlosigkeit der Einflußnahme auf Goebbels: „denn Goebbels hatte mit der Rosenstraße nichts zu tun und hätte dort auch nichts bewirken können“. Dass ein oder zwei Dokumente die Frage beantworten können, was in der Rosenstraße geschah, und der Reichsminister Goebbels, Propagandaminister und Gauleiter von Groß-Berlin, in der Angelegenheit nichts zu sagen hatte, mag logisch erscheinen, wenn man ausgewählte Dokumente und die erklärten Zuständigkeiten für bare Münze nimmt. Goebbels hätte aber wohl kaum zuvor seine Stellenbeschreibung zu Rate gezogen, wenn er die Befehlsgewalt in der Rosenstraße an sich gerissen hätte. Er hatte soeben Hitlers Ansicht in der Frage des totalen Kriegs geändert und sich dabei gegen die Einwände des „Dreierausschusses“ aus Wehrmachtschef Wilhelm Keitel, Hitlers Sekretär Martin Bormann und dem Chef der Reichskanzlei Hans Lammers durchgesetzt. Jedenfalls „stellte sich Hitler ausnahmslos auf die Seite seiner Gauleiter (oder, besser, des stärksten Gauleiters)“, wie Kershaw schreibt.
Verschiedene Einträge in Goebbels Tagebuch sind die wichtigsten Dokumente, die Historikern zur Verfügung stehen, um mithilfe weiterer Materialien die Rosenstraße zu interpretieren und das Gewicht des Protestes im Gang der Ereignisse herauszuarbeiten. Nehmen wir einmal an, Benz habe Recht. Selbst wenn wir ein Tonband finden würden, auf dem Hitler nuschelt, er habe nicht vor, die Juden der Rosenstraße zu deportieren, müssten wir immer noch erklären, warum. Wo ist der Kontext, der uns das Ergebnis der Proteste verständlich macht?
Meiner Ansicht nach finden wir diesen Kontext in dem zehnjährigen Konflikt zwischen dem Regime und den Paaren in Mischehe, der bis zu jenem Rosenstraßen-Protest führte, auf den hin das Regime nachgab und beschloss, die Deportation von Juden aus Mischehen „vorläufig“ zurückzustellen. Mit Nichtjuden verheiratete Juden führten zur Kollision zweier Grundprinzipien der Nazis: dem Prinzip der Rassereinheit und dem Prinzip, dass Ruhe im Land herrsche. Schon zu Beginn der ersten Deportationen hatten Naziführer eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die Juden in Mischehen „vorläufig“ zurückzustellen. Durch die Proteste in der Rosenstraße wurden sie gezwungen, sich auf diese Politik zurückzuziehen, trotz Goebbels Ziel, Berlin bis Ende März judenrein zu machen. Die Anordnung eines „vorläufigen“ Aufschubs zeigt jedoch, dass das Regime vorhatte, dies eines Tages doch zu tun, und 25 Juden in kinderlosen Mischehen sind aus der Rosenstraße nach Auschwitz deportiert worden.
Die entscheidende Frage ist, warum die Nazis ihre Ideologie verrieten, um für die Juden in Mischehe zunächst eine Ausnahme zu machen; warum die in der Nazilogik besonders abscheulichen Juden in Mischehen bei Beendigung der Deportationen aus Deutschland noch immer am Leben waren und warum die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden, die Hitler überlebten, mit Nichtjuden verheiratet waren. Die Untersuchung dieser zentralen Fragen führt zu Kontexten, die verständlich werden lassen, warum das Regime die Juden in Mischehe als Reaktion auf einen andauernden Massenprotest durch ihre nichtjüdischen Partner freiließ.
Die Geschichte der Rosenstraße ist ebenso komplex wie die des 20. Juli. Dessen Geschichte würden die Fachleute wohl kaum auf der Grundlage von ein oder zwei Nazidokumenten erzählen wollen, einmal abgesehen davon, dass diese Dokumente für ihre Täuschungen berüchtigt sind. Hitler mochte bürokratische Dokumente genauso wenig wie die Bürokraten selbst. Er zog es vor, mündlich Befehle zu erteilen, seinem Instinkt zu folgen und entschieden vorzugehen, wann immer der Augenblick das zuließ. Er nannte es dann eine vollendete Tatsache, die Untergebenen anzulasten war, wenn Protest laut wurde. Auch Deportationsanweisungen pflegten der Täuschung zu dienen. So wurde etwa Juden befohlen, Nähmaschinen in die „Arbeitslager“ im Osten mitzunehmen. Wenn es keinen Protest hervorrief, wurden die Anweisungen ignoriert; zum Beispiel wenn die örtliche Gestapo da oder dort in die allgemeine Deportation auch den einzigen in Mischehe lebenden Juden der Stadt einschloss. Obgleich die ersten Anweisungen für den Transport nach Auschwitz vom 20. Februar 1943 datieren, hatte Eichmanns Amt schon seit Mitte Juli 1942 Tausende deutscher Juden dorthin bringen lassen. Darunter waren auch sechs oder sieben Transporte aus Berlin.
Die Berliner Gestapo war zudem, verglichen mit anderen Städten, ein Spezialfall. Gerade in Berlin, dem Sitz der Macht, gab es viele Gründe für Diskrepanzen zwischen den Anordnungen auf dem Papier und der Praxis. Dazu gehörte die ständige Einmischung des Reichssicherheitshauptamts in die Angelegenheiten der Gestapo. In einem Aufsatz (für Geschichte und Gesellschaft, Herbst 2000), den Wolfgang Benz verschweigt, obwohl ich darin lange vor seiner Filmkritik auf die Erwähnung neuer Dokumente durch ihn und Gruner reagierte, habe ich gesagt, dass die in Mischehe lebenden Juden selbst dann, wenn die Gestapo sie irrtümlich verhaftet hätte, vom Reichssicherheitshauptamt – in diesem Stadium seiner Radikalisierung und zu einer Zeit, wo der Säuberungsprozess auch den allerletzten Juden im alten Reichsgebiet erfasste – aus der Rosenstraße in den Osten geschickt worden wären, falls es keinen Protest gegeben hätte. „Die Willkür der Gestapo und ihre Stellung jenseits des Gesetzes hatten zu dieser Zeit ein solches Ausmaß erreicht, dass die Annahme naiv ist, irgendeine gesetzliche Regelung hätte sie von der Verfolgung ihrer ‚historischen Mission‘ abhalten können. … Die Tatsache, dass in ‚Mischehen‘ lebende Juden … in den eroberten Ostgebieten im krassen Gegensatz zum Reichsgebiet aufgegriffen und ermordet wurden, zeigt deutlich, dass ihre Verschonung in Deutschland das Ergebnis der allgemeinen Stimmungslage der Bevölkerung und komplizierter politischer Überlegungen war.“
Die Historikerin Beate Meyer hat einmal, ähnlich wie Benz argumentierend, geschrieben, dass die Frauen der Rosenstraße eine offene Tür einrannten – eine Feststellung, die es offenbar mehr darauf anlegt, Geringschätzung auszudrücken als Verständnis. Es überrascht nicht, dass Ereignisse von Historikern unterschiedlich interpretiert werden. Es ist sogar wertvoll, solange jede Interpretation dem Versuch entspringt, Geschichte zu verstehen und sich in die Akteure zu versetzen. Die Interpretation von Benz und anderen ist jedoch ein Affront für die Frauen, die in der Rosenstraße protestierten; zumindest für die, mit denen ich sprechen konnte. Wenn es Benz wirklich darum gegangen wäre, sie zu verstehen, hätte er, lange bevor ich es tat, Überlebende befragen können – NS-Täter ebenso wie Opfer, von denen ich Mitte der achtziger Jahre ein Dutzend fand, die später die Hauptquelle für Bücher und Dokumentationen über die Rosenstraße bildeten.
Nehmen wir einmal an, die Protestierenden rannten eine offene Tür ein. Wer öffnete dann die Tür und warum? Und wie viele andere Deutsche waren bereit, öffentlich gegen den Strom zu schwimmen, oder sich gar, mitten in dem Unternehmen, den allerletzten Juden aus dem Reich zu beseitigen, in der Hoch-Zeit des Genozids also, öffentlich mit Juden zu verbünden? Wie viele drückten überhaupt öffentlich ihre Meinung gegenüber irgendeiner Politik aus, anstatt sich anzupassen?
Die Widersetzlichkeit der Frauen in der Rosenstraße durchbrach einen Mechanismus, der für die Nazimacht wesentlich war. Deutsche Beamte, die von der Endlösung wussten und damit einverstanden waren, nicht darüber zu sprechen, hießen in der Sprache der Nazis „Geheimnisträger“. Ein elementarer Aspekt der Kollaboration bestand darin, sich im Wissen freiwillig zu verbünden, die Wahrheit aber zu verheimlichen. Die mit Juden verheirateten Frauen, die sich weigerten, wegzuschauen, es ablehnten, sich scheiden zu lassen, und in der Rosenstraße ihr Leben riskierten, drohten nicht so sehr andere in den offenen Dissens zu führen (denn das war selbst für die, die in der „inneren Emigration“ lebten, ein allzu großer Schritt), als vielmehr die Augen anderer für unbequeme Wahrheiten zu öffnen.
Dieses Ereignis, in dem gewöhnliche Leute auf die Bühne der Geschichte treten, ist wesentlich für ein Gesamtbild von Gesellschaft und Diktatur des „Dritten Reichs“. In der hierarchischen, autoritären Auffassung des Staates, wie sie sich auch in dem Widerstandsbegiff der frühen Nachkriegszeit niederschlug, ist die Rosenstraße als Ereignis ausgeschlossen. In der Rosenstraße stehen Frauen im Mittelpunkt. Ihre Würdigung bedeutet auch, die wenigen gewöhnlichen Deutschen zu würdigen, die ihr Leben riskierten, um dem Regime zu trotzen. Sie ist zugleich ein Schritt dahin, den Menschen und ihren Institutionen die Verantwortung für den Widerstand zurückzugeben, relativ zu dem Maß, in dem die Menschen Verantwortung für Hitlers Machtergreifung und seine Massenvernichtung trugen.
Das Gewicht, das die Mischehen für das Regime hatten, verweist nicht nur darauf, dass es von der Unterstützung durch die Masse der Deutschen abhing. Es zeigt auch, dass individuelle oder kollektive Gehorsamsverweigerung die Verbrechen möglicherweise eingedämmt hätte. Die Geschichte der Rosenstraße ist die Brücke, die eine neue Perspektive von unten mit der individuellen Verantwortung für den Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland verbindet.
Kontakt:
Professor Nathan A. Stoltzfus
Department of History Florida State University
447 Bellamy Bldg.
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nstoltzf@mailer.fsu.edu
Quelle: Nathan Stoltzfus, in: Die ZEIT Nr. 45, 30.10.2003
Heidelberger Adressbücher 1839-1945 im Internet
Ab sofort stellt die Universitätsbibliothek Heidelberg via Internet mit der Digitalisierung der Heidelberger Adressbücher vom ersten Jahrgang 1839 bis 1945 eine einzigartige Quelle für die personen- und stadtgeschichtliche Forschung Heidelbergs bereit. Auf den Internet-Seiten der Universitätsbibliothek können die Adressbücher nun orts- wie zeitunabhängig, und zudem kostenlos, eingesehen werden: http://adrHD.uni-hd.de.
Die Heidelberger Adressbücher wurden bis 1878 in regelmäßigem Abstand von zwei Jahren herausgegeben, seitdem erscheint es jährlich. Die insgesamt ca. 40.000 Seiten bis 1945 wurden seit Anfang 2003 von Mikrofilmen, die das Stadtarchiv Heidelberg zur Verfügung gestellt hat, in der Digitalisierungswerkstatt der UB mit einem Mikroformscanner digitalisiert. Anschließend wurden die gescannten Seiten für die Internetpräsentation auf den WWW-Seiten der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbereitet. Neben dem Stadtarchiv Heidelberg unterstützte die Stadt-Heidelberg-Stiftung die Digitalisierung der Adressbücher.
Die Bände bieten nach Namen, Straßen und Branchen geordnete Informationen zu den Einwohnern, aber auch zu Behörden und Vereinen. Darüber hinaus enthalten sie Hinweise zu Sehenswürdigkeiten, Verkehrsverbindungen sowie Werbe- und Geschäftsanzeigen. Interessierte Fachwissenschaftler und Laien können nun nicht nur online in den Adressbüchern blättern, sondern haben zudem die Möglichkeit, gezielt über ein Eingabefeld nach Namen, Straßen und Berufen zu suchen. Die in der UB aufbewahrten Originalbände sind durch rege Nutzung und den fortschreitenden Papierzerfall stark gefährdet und stehen daher den Benutzern nur noch sehr eingeschränkt zur Verfügung.
Neben dem Angebot der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die vor kurzem die Jahrgänge 1799 bis 1943 des „Berliner Adressbuches“ im Internet zur Verfügung stellt (dort allerdings kostenpflichtig), bietet Heidelberg als zweite Stadt in Deutschland diesen komfortablen Service an.
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Quelle: idw-online, 28.10.2003
