Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat eine wegweisende Kooperation mit dem Diplomatischen Archiv des französischen Außenministeriums in La Courneuve (Archives diplomatiques du ministère de l’Europe et des Affaires étrangères) geschlossen. In Frankreich aufbewahrte Entnazifizierungsakten aus (Süd-)Baden zu mehr als 200.000 Personen sollen digitalisiert und online zugänglich gemacht werden. Zum Projektstart übergab Nicolas Chibaeff, Direktor des Diplomatischen Archivs, am 14.10.2021 im französischen Generalkonsulat in Stuttgart die ersten Digitalisate an Prof. Dr. Gerald Maier, Präsident des Landesarchivs.
Abb.: Der baden-württembergische Landesarchivpräsident Prof. Dr. Gerald Maier und der Direktor des Diplomatischen Archivs Nicolas Chibaeff bei der Übergabe der ersten Digitalisate (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg)
Petra Olschowski, Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, sagte anlässlich der feierlichen Übergabe: „Frankreich und Baden-Württemberg pflegen seit Jahrzehnten enge und gute Beziehungen im Kulturbereich. Das Projekt des Diplomatischen Archivs und des Landesarchivs ist ein herausragendes Zeichen der französisch-deutschen Zusammenarbeit. Mit dem Zugang zu den Spruchkammerakten werden wesentliche Impulse für die zeitgeschichtliche, sozial- und familiengeschichtliche Forschung geschaffen. Und es wird auch ein neuer niederschwelliger Zugang für die Öffentlichkeit und für eine vertiefende Vermittlungs- und Bildungsarbeit ermöglicht. Ich danke der französischen Seite, dass sie diese grenzüberschreitende Kooperation ermöglicht.“
Landesarchiv-Präsident Gerald Maier betonte die Besonderheit des gemeinsamen Projekts: „Dieses grenzüberschreitende Projekt ist ein weiterer wichtiger Schritt in der Zusammenarbeit zwischen französischen und deutschen Archiven. Als Pilotprojekt für die digitale Zusammenführung von Unterlagen, die seit der Nachkriegszeit zwischen zwei Ländern aufgeteilt sind, hat das Vorhaben Modellcharakter.“ Nicolas Chibaeff, Direktor des Diplomatischen Archivs in La Courneuve, unterstrich: „Diese beispielhafte Partnerschaft zeugt von der Qualität der Zusammenarbeit zwischen den beiden Archiven und macht wichtige Dokumente zur Geschichte Deutschlands und zum demokratischen Übergang in der Nachkriegszeit für alle, Forscher und Bürger gleichermaßen, zugänglich.“
Seit dem Ende der französischen Besatzung werden in Frankreich Unterlagen zur Entnazifizierung in (Süd-)Baden aufbewahrt, darunter mehr als 200.000 Personenakten der (süd-)badischen Spruchkammer. Sie gelangten in den 1950er Jahren zunächst in das Archiv der französischen Besatzung in Deutschland und Österreich (Archives de l’occupation française en Allemagne et en Autriche) in Colmar. Seit 2010 befinden sich die Akten im Diplomatischen Archiv des französischen Außenministeriums in La Courneuve bei Paris. Der andere, noch umfangreichere Teil der Überlieferung der Spruchkammer Südbaden wird in der Abteilung Staatsarchiv Freiburg des Landesarchivs Baden-Württemberg aufbewahrt.
Die Entnazifizierungsakten in Frankreich enthalten Unterlagen zu Funktionsträgern aus der NS-Zeit wie dem letzten Kommandanten von Paris Dietrich von Choltitz sowie zu vielen Personen aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Darunter befinden sich der Philosoph Martin Heidegger, die Regisseurin Leni Riefenstahl, der Verleger Franz Burda und der badische Staatspräsident Leo Wohleb. Für die zeitgeschichtliche Forschung, aber auch für Menschen, die zur Geschichte ihrer Familie während des Nationalsozialismus recherchieren, besitzt das Material einen hohen Quellenwert: Spruchkammerakten enthalten Informationen zu Biographien im Zeitraum zwischen 1931 und der Nachkriegszeit. Gleichzeitig sind die Angaben und Aussagen der Befragten in vielen Fällen problematisch und erfordern eine genaue Quellenkritik. Nicht selten wurden in den Fragebögen Mitgliedschaften in NS-Organisationen, zum politischen Wirken und den Einkommensverhältnissen weggelassen, beschönigt oder komplett gefälscht. Noch schwieriger zu beurteilen sind Informationen in sogenannten „Persilscheinen“, die Betroffene zu ihrer Entlastung vorlegten.
Die Entnazifizierungsunterlagen werden in den kommenden Jahren digitalisiert, mit den Erschließungsdaten des Staatsarchivs Freiburg verknüpft und in den Online-Angeboten des Landesarchivs sowie des Diplomatischen Archivs frei zur Verfügung gestellt. Ermöglicht wird das Projekt durch die Förderung der Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst.
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Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Pressemappe zum Projektstart, 14.10.2021; Landesarchiv Baden-Württemberg, Pressemitteilung, 14.10.2021