Aus der neuen Dürrner Ortschronik

Das Dorf Dürrn ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Ölbronn-Dürrn im Enzkreis in Baden-Württemberg. Dürrn weist eine ungewöhnliche Geschichte auf. Es war bis weit in die Neuzeit als „Kondominatsort“ unter vier Ortsherren geteilt. Seine Geschichte beginnt jedoch schon sehr viel früher, in der Jungsteinzeit. – Welche Spuren hinterließen Kelten und Römer auf Dürrner Gemarkung? Wie alt ist das Straßendorf? Wie lebten die Dürrner als „Diener vieler Herren“? Und wie entwickelte sich der Ort unter badischer Oberhoheit seit 1730? Wie veränderte die Industrialisierung das Leben der Menschen und verwandelte Dürrn zu einem Goldschmiedsbauerndorf? Was geschah in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus? Welche Veränderungen brachte die Nachkriegszeit, die Dürrn zu der Gemeinde machten, die sich 1974 mit Ölbronn zusammenschloss?

Dies sind einige der Fragen, denen die im Sommer 2017 erschienene umfangreiche Ortsgeschichte nachgeht, die nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlreichen, zumeist farbigen Bilder zum Blättern und Vertiefen einlädt. Der Autor Konstantin Huber ist Leiter des Kreisarchivs des Enzkreises in Pforzheim. Mit drei einzelnen Folgen sollen Einblicke in die neue Dürrner Ortschronik gegeben werden.

Folge 1: Die Dürrner Schnapstrinker – oder: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung“

Entsprechend der großen Bedeutung des Obstbaus spielte die Branntwein- oder Schnapsherstellung in Baden eine große Rolle. Die Gemeinde Dürrn teilte im Jahr 1807 dem Oberamt Pforzheim mit, dass „von jeher“ jeder, der es wollte, Branntwein ausschenken durfte. Die Ortsvorgesetzten versicherten, darauf zu achten, dass „zum Nachtheil der Gesundheit ihrer Mitbürger kein Misbrauch gemacht werde“. Dass der Einfluss der Dorfoberen hierauf freilich relativ gering war, verdeutlichen indes einzelne Notizen, so wie folgende im Ortsbereisungsprotokoll vom Jahr 1853: „David Biebelheimer hat sich dem Branntweintrunk ergeben und macht in trunkenem Zustand Scandal aller Art“. Und Gottlieb Schäfer „ergab sich in den 60er Jahren dem Trunk, so daß er öfters allerlei Gethier u[nd] Menschen sah (Visionen)“.

Abb.: Erste Seite des Berichtes von Pfarrer Schmitthenner an das Oberamt Pforzheim über „den Branntweinkonsum in der Gemeinde Dürrn“ (1880).

Der Selbstmord des alkoholkranken Philipp Barth (1879) führte zu einer größeren Untersuchung durch das Bezirksamt. Diese ließ die Dürrner Einwohnerschaft insgesamt in keinem besonders guten Licht erscheinen. So berichtete der Oberamtmann 1880, die Gemeinde stehe im Ruf eines hohen Branntweinkonsums. Zur Klärung des Phänomens verfasste Pfarrer Schmitthenner eine 14 Seiten umfassende Denkschrift, die einigen Einblick in das Dürrner Alltagsleben gibt. Er war nämlich nicht in erster Linie bemüht, die aus seiner Sicht gottlosen und lasterhaften Glieder seiner Gemeinde einfach mit erhobenem Zeigefinger an den Pranger zu stellen; so anonymisierte er ihre Namen, wobei die gewählten Großbuchstaben der Reihenfolge seiner Schilderung (von A bis U) entsprangen und keine Abkürzungen der Familiennamen darstellen. Der Pfarrer suchte vielmehr nach Ursachen für den Alkoholismus und gab seine Meinung zur Eindämmung des Problems kund, wenngleich sein Blick dabei auf eine strikte Begrenzung der Bezugsquellen beschränkt blieb.

Schmitthenner begann seinen Bericht mit den Worten: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung. Man kann ihm eine Geschichte schreiben und zwar einen Nekrolog vorerst.“ Zunächst schilderte der Pfarrer daher die körperliche Leidensgeschichte von elf dem Trunk ergebenen Personen, die in den Jahren 1873–80 im Alter zwischen 39 und 76 Jahren verstorben waren. In acht dieser Fälle maß Schmitthenner dem Alkoholismus eindeutig lebensverkürzende Wirkung bei. Es handelte sich fast ausschließlich um Männer, die teilweise durchaus vermögend gewesen waren und ihre Mittel vertranken, wie der eigentlich fleißige Bauer E, der als lediger Mann „in sexueller Ausschweifung“ lebte, dann „ein übel erzogenes unordentliches Weib“ heiratete. Der „Verdruß brachte ihn an das Weintrinken und von da kam er an den Schnapps“. Schmitthenner schrieb übrigens Schnapps bewusst immer in dieser Form, da er das Wort von „schnappen, d.h. kurze schnelle Züge nehmen“, ableitete! Der fromme N, der sogar Vorstand einer christlichen Gemeinschaft war, „hatte seine Natur verderbt durch die Gewohnheit, bei kleineren Anfällen von Leibweh oder Kolik Liqueur und feineren Branntwein zu trinken – in kleinen Quantitäten. […] Er hat keinesfalls einer Trunksucht nachgehangen. Aber wie sein schwacher Unterleib durch diese verkehrte Arznei stets irritirter ward und er endlich täglich sein Gläschen trank, so unterlag er der stets stärker auftretenden Kolik oder Ruhranfällen, die sich zu einer Unterleibsentzündung steigerten.“ Der Geistliche schreckte zur Verdeutlichung seiner Worte nicht vor grausigen Schilderungen zurück, wie bei dem „regelmäßigen Schnappstrinker“ M, dessen „Leichnam, obwohl er nicht wassersüchtig war, furchtbar schnell schwoll, so daß er im Sarg kaum Platz fand und schrecklich roch. Der Verwesungsprozeß war durch die blutzersetzende Wirkung des Branntweins förmlich vorbereitet und äußerst beschleunigt“.

Nach seinem einleitenden „Nekrolog“ berichtete Schmitthenner auch von der „lebenden Geschichte“ des Branntweins in Dürrn, d.h. von acht weiteren Personen, davon wieder sechs Männern, die derzeit dem Trunk ergeben seien. „Das entsetzlichste Beispiel“ sei die Ehefrau S. Vom Wein kam sie allmählich „zum Schnapps, und ist nach vielen entsetzlichen häuslichen und öffentlichen Scenen so weit gekommen, daß sie […] nach Dingen verlangt, welche ‚kratzen‘, d.h. den Gaumen in dieser kolossalen Weise kitzeln oder reizen. Sie […] gieng schon mit Lügen und Stehlen und Betteln um, nur um Mittel zu bekommen zur Befriedigung ihrer Schnapps-Gelüste“. Die Schilderung ihres Falles beendete der Dürrner Ortspfarrer mit den pathetischen Worten: „Sie ist zunächst verloren für jeden edleren Zweck des menschlichen Daseins, von dem ewigen Ziel des menschlichen Lebens gar nicht zu reden.“

Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der hohen Anzahl der geschilderten negativen Beispiele sei, so Pfarrer Schmitthenner, die öffentliche Meinung in Dürrn abgestumpft. Da zudem eine Person „von bedeutender öffentlicher Stellung auf dem kirchlichen Gebiet“ trinke, gelte der Schnapsgenuss keinesfalls als verwerflich. Auch die Jugend sah Schmitthenner in Gefahr. So berichtete er unter der Überschrift „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“ davon, dass im letzten Winter der größere Teil der Konfirmanden „um das Geld, das ihnen die Eltern gegeben, um dem Pfarrer und dem Hauptlehrer das übliche Weihnachtsgeschenk zu machen, ¼ Liter Liquoer […] kauften und […] vertranken“.

Der Pfarrer empfahl eine möglichst scharfe polizeiliche Überwachung und Beschränkung der Schankgenehmigung auf die Wirtschaften, damit sprichwörtlich den „Branntweinkonsumenten nicht der Brodkorb, sondern die Schnappsflasche höher gehängt“ werde. In den Wirtshäusern sei noch eher eine sittliche Kontrolle möglich als in den „Kramläden“. Außerdem sei „nach alter Erfahrung eine Wirthshaussauferei nie so schlimm […] als der in der Studentensprache sogenannte stille Suff“.

Im Jahr 1891 hieß es, auf dem Karlshäuserhof sei 1850-60 Schnaps gebrannt worden, was die „Anleitung zum Schnapsen“ nach Dürrn gebracht habe, so wie die Göbricher das Schnapstrinken auf dem Katharinentalerhof gelernt hätten. Inzwischen aber seien, zumindest „nach Behauptung des Gemeinderaths“, die Schnapstrinker „nach und nach ausgestorben“. Ganz so war es sicher nicht, doch hielten sich die Klagen später in Grenzen.

Konstantin Huber

Siehe auch:
Folge 2: Der Dürrner Charakter
Folge 3: Aus „Flüchtlingen“ werden Neubürger: Die Integration der Heimatvertriebenen

Info:
Konstantin Huber:
Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg.
Mit Beiträgen von Christoph Florian und Martin Schickle
Ostfildern und Pforzheim 2017
520 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-7995-0692-2

 

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